„Er hat heute geweint“, sagte ich leise.
„Zum ersten Mal seit dem Begräbnis“, antwortete Anna. „Und als er merkte, dass Sie nicht sein Papa sind… es war, als hätte man ihm den Vater ein zweites Mal genommen.“
„Anna, ich kann nicht… ich darf nicht…“
„Ich erwarte nicht, dass Sie Markus ersetzen“, unterbrach sie mich. „Aber seit er Sie gesehen hat, spricht er mehr. Er isst. Er reagiert. Und wenn er Ihre Hand hält, wirkt er… erleichtert. Vielleicht, weil Sie auch trauern. Vielleicht erkennt er das.“
Wir kamen bei Sonnenuntergang an. Ein kleines Haus am Dorfrand, ordentlich, mit einem bunten Blumenbeet vor der Tür.
Lukas wachte auf, kaum dass der Motor aus war, und rannte aus dem Auto. Er sah sich hektisch um, bis er meine Maschine sah.
„Du bist noch da!“
„Ich habe es dir versprochen“, sagte ich.
Anna’s Mutter – Helga – kam aus dem Haus. Eine Frau um die siebzig, graue Haare zum Knoten gebunden, Schürze, müde, aber wache Augen. Sie sah ihre Tochter, ihren Enkel, dann mich.
Es dauerte zwei Sekunden, und ich sah den Moment, in dem sie verstand.
Es gibt diesen Blick, den nur Menschen haben, die selbst ein Kind begraben mussten. Eine Mischung aus Erkennen und Stille.
„Sie bleiben zum Abendessen“, sagte sie nur. Kein Fragezeichen.
Beim Essen saß Lukas zwischen Anna und mir. Er erzählte von Motorrädern, von seinem Papa, von der Schule, und zwischendurch davon, was ich ihm alles beibringen könnte.
Anna entschuldigte sich mit Blicken.
Helga beobachtete uns, still, mit einer Art vorsichtiger Hoffnung.
„Haben Sie sonst noch Familie, Thomas?“ fragte sie irgendwann.
„Früher hatte ich eine“, antwortete ich. „Meine Frau und mein Sohn. Und eine zweite Familie in der Feuerwehr. Jetzt… fahre ich viel.“
„Alle weg?“ fragte sie ruhig.
„Ja“, sagte ich. „Alle weg.“
„Siebzehn Jahre sind eine lange Zeit, um das allein zu tragen“, meinte sie.
„Man lernt, damit zu leben“, sagte ich.
„Nein“, widersprach sie. „Man lernt, davor wegzulaufen. Das ist etwas anderes.“
Nach dem Essen wollte Lukas unbedingt mein Motorrad sehen. Helga nickte, also gingen wir auf den Hof. Er strich mit ehrfürchtigen Fingern über den Tank, über den Lenker.
„Papa hat versprochen, dass wir ans Meer fahren, wenn er zurück ist“, sagte er. „Mit einem Motorrad.“
„Welches Meer?“
„Alle“, sagte er ernst.
Ich hob ihn auf den Sitz. Er war so klein, seine Füße baumelten in der Luft. Aber sein Gesicht leuchtete, als würde Weihnachten und Geburtstag gleichzeitig sein.
„Thomas, bleibst du hier?“ fragte er plötzlich.
„Lukas, ich…“
„Nicht für immer“, fügte er hastig hinzu. „Nur heute Nacht. Bitte. Ich schlafe schlecht, seit Papa weg ist. Aber wenn du hier bist, hab ich nicht so Angst.“
Anna trat zu uns. „Du könntest auf dem Sofa schlafen“, sagte sie leise. „Nur heute Nacht.“
Ich blieb.
In dieser Nacht erfuhr ich, wie schlimm Lukas’ Albträume waren. Er schrie, weinte, rief nach seinem Vater, nach Soldaten, die ihn nicht gehen lassen sollten.
„Thomas!“, schrie er irgendwann. „Lass Papa nicht wieder weg!“
Ich ging in sein Zimmer. Anna stand schon neben dem Bett, hilflos.
„Hey, Lukas. Ich bin da.“
Er griff nach meiner Hand. „Sie nehmen ihn mit“, murmelte er. „Die Männer in Uniform. Sie nehmen ihn immer wieder mit.“
„Heute nimmt niemand jemanden mit“, sagte ich. „Ich verspreche es dir.“
„Bleibst du bei mir?“ fragte er.
Anna stellte einen Stuhl neben sein Bett. Ich setzte mich hin. Lukas hielt meine Hand wie einen Rettungsring.
„Pfeifst du?“ flüsterte er.
Also pfiff ich wieder „Amazing Grace“.
Ich pfiff, bis er ruhiger atmete.
Ich pfiff, bis seine Hand schwer in meiner wurde.
Ich pfiff weiter – für Paul, für Markus, für all die, deren Namen ich nie kannte.
Anna stand im Türrahmen. „Markus saß genau so hier“, sagte sie leise. „Gleicher Stuhl. Gleiches Lied.“
„Ich sollte gehen“, murmelte ich. „Das ist nicht fair.“
„Nichts war fair, seit Markus gestorben ist“, antwortete sie. „Im Moment zählt nur, was funktioniert.“
Ich blieb.
Diese Nacht.
Und die nächste.
Und noch eine.
Jeden Morgen sagte ich mir: Heute fahre ich wieder. Heute steige ich auf und verschwinde.
Und jeden Morgen kam Lukas mit einer neuen Bitte:
„Zeigst du mir, wie man Reifenluft prüft?“
„Bringst du mir einen neuen Pfiff bei?“
„Erklärst du mir den Knoten, den Papa mir zeigen wollte?“
Am vierten Tag stellte Lukas die Frage, die alles veränderte.
Wir saßen am Küchentisch und bastelten ein kleines Modellmotorrad, das Helga ihm gekauft hatte.
Meine Hände zitterten ein wenig, als ich die winzigen Teile zusammensteckte.
„Thomas?“, fragte er.
„Ja?“
„Wenn mein Papa dich geschickt hat, und dein Paul bei meinem Papa ist… vielleicht… vielleicht hat Paul mich dann auch zu dir geschickt?“
Ich ließ das kleine Plastikrad fallen. Es rollte über den Tisch, als hätte es mehr Kontrolle über seine Richtung als ich über mein Leben.
„Wie meinst du das, Lukas?“
„Na ja“, sagte er langsam. „Du bist traurig, weil Paul im Himmel ist. Ich bin traurig, weil Papa im Himmel ist. Aber wenn wir zusammen sind, vergisst die Traurigkeit manchmal, so weh zu tun. Vielleicht haben die da oben getauscht. Sie bleiben zusammen – und schicken uns zueinander.“
Anna kam gerade herein, hörte das und setzte an, ihn zu korrigieren.
„Lukas, so…“
„Nein“, sagte ich. Meine Stimme klang rau. „Vielleicht… hat er gar nicht so unrecht.“
Abends saßen Anna und ich auf der Terrasse. Helga war arbeiten – sie machte noch ein paar Stunden in einem kleinen Pflegeheim im Ort.
Die Luft war kühl, man hörte Grillen, irgendwo fuhr ein Zug vorbei.
„Markus ist Motorrad gefahren“, erzählte Anna. „Nichts Spektakuläres. Eine alte Maschine, aber er liebte sie. Er sagte, auf dem Motorrad sei der Kopf endlich still.“
„Paul liebte meine Maschine“, sagte ich. „Er wollte immer im Seitenwagen mit. An dem Tag des Unfalls war ich in der Nachtschicht. Ein Betrunkener ist ihnen frontal ins Auto gefahren. Ich habe die Stelle später im Einsatzprotokoll gelesen. Ich war nicht vor Ort. Manchmal wünsche ich mir, ich wäre es gewesen.“
„Wie lebt man weiter nach so etwas?“, fragte sie.
„Gar nicht richtig“, sagte ich ehrlich. „Man funktioniert. Geht Schicht für Schicht, Tag für Tag. Bis plötzlich ein Junge im Dino-Schlafanzug dein Bein packt und ‘Papa’ sagt.“
Sie lachte kurz, bitter. „Du hast Angst, oder?“
„Mehr als bei jedem Feuer“, sagte ich. „Weil ich genau weiß: Wenn ich bleibe, wird es irgendwann weh tun. Für Lukas. Für dich. Für mich.“
„Wenn du gehst, tut es sofort weh“, sagte sie. „Vielleicht ist später besser als gleich. Vielleicht aber auch nicht. Ich weiß es nicht.“
„Ich auch nicht“, gab ich zu. Und das war für mich das Erschreckendste – nach Jahren, in denen ich genau wusste, wie ich fliehen konnte, wusste ich zum ersten Mal nicht mehr, wohin.
Ein paar Tage später hatte Lukas einen Termin bei seiner Kinderärztin. Sie machte sich Sorgen um sein Gewicht und darum, dass er sich so zurückgezogen hatte. Anna fragte, ob ich mitkommen könnte. Lukas weigerte sich inzwischen, irgendwohin zu gehen, wenn ich nicht dabei war.
Im Wartezimmer saß er zwischen uns und malte – natürlich ein Motorrad.
Ein anderer Junge mit seinem Vater beobachtete uns neugierig.
„Ist das dein Papa?“ fragte er Lukas.
„Nein“, sagte Lukas sachlich. „Mein Papa ist tot. Das ist Thomas. Der Himmel hat ihn geschickt, weil ich zu traurig war.“
Die Mutter des anderen Jungen wurde kreidebleich und zog ihr Kind ein Stück weg. Lukas bemerkte es nicht einmal. Er malte weiter.
Dr. Yilmaz, eine kleine Frau mit freundlichen Augen, begrüßte uns.
„Lukas“, sagte sie, „deine Mama sagt, du isst wieder etwas besser.“
„Thomas und ich essen zusammen“, erklärte Lukas. „Immer ein Bissen er, ein Bissen ich.“
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