„Und schlafen?“, fragte sie.
„Thomas pfeift, bis die Albträume weggehen.“
Sie sah mich über den Brillenrand hinweg an. „Sie sind…?“
„Thomas“, sagte Lukas, als wäre das die komplette Erklärung. „Der von Papa Geschickte.“
Später bat sie Anna und mich, kurz zu bleiben, während Lukas im Wartezimmer malte.
„Ich weiß nicht, wer Sie sind“, sagte sie, „und wie lange Sie bleiben. Aber so lebendig habe ich Lukas seit dem Tod seines Vaters nicht gesehen. Was immer Sie tun – machen Sie weiter. Solange Sie es aushalten.“
„Ich bin niemand Besonderes“, murmelte ich. „Nur ein alter Feuerwehrmann auf einem Motorrad.“
„Für Lukas sind Sie jemand“, sagte sie. „Die Frage ist nur, ob Sie wieder jemand sein können, nachdem Sie so lange versucht haben, niemand zu sein.“
Die nächsten Wochen vergingen. Ich zog in das kleine Appartement über Helgas Garage. Sie bot es mir an – „ganz normaler Mietvertrag, kein Mitleid, keine Verpflichtung, aber der Junge braucht Stabilität und Sie einen Ort zum Atmen.“
Lukas half mir beim Einräumen.
Er zeigte mir, wo man im Dorf die besten Brötchen bekam, welchen Baum man am besten beklettern konnte und welche Straße man meiden sollte, wenn man seine Ruhe wollte.
Die alten Kollegen von der Feuerwehr riefen an.
„Pfeifer, wo steckst du?“, fragte Kai, mein früherer Zugführer. „Seit Wochen nicht mehr in der Wache aufgetaucht.“
„In Unterfranken“, sagte ich. „In einem kleinen Dorf.“
„Was machst du da?“
Ich sah durch das Fenster. Lukas versuchte gerade, Helga beizubringen, die ersten Töne von „Amazing Grace“ zu pfeifen.
„Ich weiß es nicht genau“, sagte ich. „Aber es fühlt sich an, als wäre ich zur Abwechslung am richtigen Einsatzort.“
„Kommst du wieder?“
„Ich… weiß es nicht.“
„Du klingst anders“, meinte Kai. „Nicht leichter. Aber… echter.“
Der Wendepunkt kam, als Lukas mit einem Zettel aus der Schule nach Hause kam.
„In zwei Wochen ist Vater-Kind-Frühstück“, erklärte er. „Eigentlich heißt es ‘Väterfrühstück’, aber es dürfen auch Opas oder Onkel mit. Letztes Jahr war Opa da, weil Papa in Afghanistan war. Aber Opa ist jetzt auch im Himmel. Mama darf nicht mit, weil sie eine Mama ist.“
Er sah mich an. Man brauchte kein Psychologe zu sein, um zu verstehen, was jetzt kam.
„Thomas, kommst du mit? Du musst nicht sagen, dass du mein Papa bist. Du kannst einfach Thomas sein.“
Anna wollte reflexartig „Nein“ sagen. Helga legte ihr die Hand auf den Arm.
„Lass den Jungen fragen“, sagte sie.
„Bitte“, sagte Lukas. „Alle anderen haben jemanden.“
Ich sah zu Anna. Ihre Augen waren voll Tränen, aber sie nickte.
Also stand ich zwei Wochen später in einer Grundschulmensa zwischen Männern mit Anzügen, Arbeitshosen und müden Gesichtern. Ich hatte mein bestes Hemd an, auch wenn es längst aus der Mode war. Meine Jacke mit dem Adler hatte ich trotzdem an – Lukas bestand darauf.
Er trug die Erkennungsmarke seines Vaters um den Hals, so sehr poliert, dass sie im Neonlicht glitzerte.
Die Kinder sollten nach vorne gehen und kurz etwas über ihren „Menschen“ erzählen.
Als Lukas dran war, stand er auf. Kleine Schultern, großer Ernst.
„Mein Papa hieß Markus“, sagte er. „Er war Soldat und ist in Afghanistan gestorben, weil er Menschen beschützt hat. Deshalb kann er heute nicht hier sein. Thomas ist da. Thomas hat seinen Sohn Paul verloren. Der ist jetzt bei meinem Papa. Thomas pfeift, wenn ich Albträume habe. Er bringt mir ‘Amazing Grace’ bei und erklärt mir Motorräder. Er ist nicht mein Papa, aber ich glaube, Papa würde ihn mögen.“
Es war still. Sehr still.
Dann stand ein Mann in Uniform auf – irgendein Offizier, der wohl als Ehrengast da war – und salutierte Lukas.
Nach und nach standen andere Männer auf, auch einige ohne Uniform, und nickten ihm zu. In ihren Gesichtern lag etwas, das ich gut kannte: Respekt vor einem Kind, das Worte für Dinge findet, für die Erwachsene oft keine haben.
Lukas setzte sich wieder hin und griff nach meiner Hand.
„War das okay?“ flüsterte er.
„Das war mehr als okay, Lukas“, sagte ich. „Das war mutig.“
Nach dem Frühstück kam der Offizier zu mir. Ich habe seinen Namen vergessen, aber nicht seinen Blick.
„Ich kannte Markus“, sagte er. „Er war ein guter Mann.“
„Ich nicht“, erwiderte ich. „Aber ich versuche, ein guter Mann für seinen Sohn zu sein.“
Er gab mir eine Visitenkarte. „Ich arbeite in einem Verein für Hinterbliebene von Einsatzkräften. Wir betreuen Kinder, die Mütter oder Väter im Dienst verloren haben. Wir könnten jemanden wie Sie brauchen.“
„Ich bin niemand Besonderes“, wiederholte ich.
Er sah zu Lukas, der mit einem anderen Jungen lachte. „Für ihn schon“, sagte er. „Und Markus wäre dankbar.“
An einem Wochenende fragte Lukas, ob ich ihm Fahrradfahren beibringen könne. Markus hatte es nie geschafft, bevor er wieder in den Einsatz musste.
Wir gingen in den kleinen Park am Ortsrand.
Anna und Helga saßen auf einer Bank, ich rannte hinter dem klapprigen Kinderfahrrad her.
„Lass nicht los!“, rief Lukas.
„Ich halte fest“, sagte ich. Ich ließ schon los, aber das musste er noch nicht wissen.
Nach ein paar Metern merkte er, dass ich nicht mehr hielt. Er bremste so abrupt, dass er hinfiel – und lachte. Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, lachte er frei und laut.
„Ich kann’s! Thomas, ich kann alleine fahren! Meinst du, Papa hat das gesehen?“
„Ganz sicher“, sagte ich. Und zum ersten Mal meinte ich es nicht nur als Trost, sondern fühlte ein kleines, warmes „Vielleicht“ in mir.
In jener Nacht hatte Lukas einen besonders schlimmen Traum.
Dieses Mal rief er nicht nach Markus.
Er rief nach Paul.
Ich stürmte in sein Zimmer. Er saß im Bett, Tränen im Gesicht, aber wach.
„Ich habe von Paul geträumt“, sagte er. „Er war sauer. Er hat gesagt, ich nehme dir ihn weg. Stimmt das? Ist er böse, weil ich jetzt da bin und du nicht mehr so traurig bist nur wegen ihm?“
Ich setzte mich zu ihm aufs Bett und nahm ihn in den Arm. Das war das erste Mal, dass ich ihn wirklich fest hielt, nicht nur seine Hand.
„Lukas“, sagte ich. „Paul war ein Kind, das immer wollte, dass es anderen gut geht. Wenn er dich sehen würde – wie du mich zum Lachen bringst, wie du mich zwingst, wieder zu essen, wie du mich aus meinem Loch holst – dann wäre er stolz. Und froh. Nicht böse.“
„Ganz sicher?“ fragte er.
„Ganz sicher.“ Ich atmete tief durch. „Mein Sohn und dein Papa passen gut zusammen da oben. Und sie freuen sich, dass wir uns gefunden haben.“
Er drückte sich näher an mich. „Thomas?“
„Ja?“
„Ich hab dich lieb.“
Das traf mich wie ein Schlag.
Dieser kleine Junge, der in wenigen Wochen mein Leben auf den Kopf gestellt hatte, sagte die drei Worte, vor denen ich siebzehn Jahre lang Angst gehabt hatte.
„Ich hab dich auch lieb, Lukas“, sagte ich. Und ich meinte jedes Wort.
Sechs Monate sind seit dieser Nacht vergangen.
Lukas ist jetzt sieben. Er isst wieder normal, lacht oft, fährt Fahrrad wie ein kleiner Wirbelwind und kann mehrere Lieder pfeifen. „Amazing Grace“ sitzt perfekt, auch wenn er ein bisschen schief anfängt. Danach immer ein anderes Lied, das ich ihm beigebracht habe – eins davon, das ich früher in der Werkstatt gepfiffen habe, wenn mir die Worte fehlten.
Ich wohne immer noch in Helgas Garage. Die Kollegen von der Feuerwehr haben sich daran gewöhnt, dass ich nicht zurück in den Schichtdienst komme. Stattdessen helfe ich ab und zu als Ehrenamtlicher bei diesem Verein für Hinterbliebene. Manchmal sitze ich mit Kindern in einem Kreis, die alle irgendwie dieselben leeren Stellen in ihren Familien haben. Ich pfeife für sie. Nicht alle mögen es, aber einige lächeln.
Tut es weh?
Ja. Jeden Tag.
Es tut weh, wenn Lukas mich aus Versehen „Papa“ nennt.
Es tut weh, wenn er etwas schafft, das Markus hätte sehen sollen.
Es tut weh, wenn ich daran denke, dass ich eine zweite Chance bekomme, während Paul nie älter als sieben werden durfte.
Aber Lukas hatte recht: Traurigkeit wird kleiner, wenn man sie teilt.
Letzte Woche fragte er, ob wir Pauls Grab besuchen könnten.
Ich war seit fünf Jahren nicht mehr dort gewesen. Ich konnte es einfach nicht.
Wir fuhren hin. Ein kleiner Friedhof am Rand der Stadt, auf der Platte mein Sohns Name und das Datum, das mein Leben in ein Davor und Danach geteilt hatte.
Lukas stellte sich vor den Stein.
„Hallo Paul“, sagte er. „Ich bin Lukas. Ich pass ein bisschen auf deinen Papa auf. Er bringt mir Sachen bei, und ich bringe ihn manchmal zum Lachen. Ich hoffe, das ist okay.“
Dann nahm er seine Kette mit Markus’ Erkennungsmarke ab. Die, die er seit vierzehn Monaten jeden Tag getragen hatte.
„Damit du nicht alleine bist“, sagte er, hängte die Marke an den Stein. „Mein Papa ist mutig. Du bist bestimmt auch mutig. Dann könnt ihr euch das teilen.“
Ich konnte nichts sagen. Ich stand nur da, neben diesem kleinen Jungen, und hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass meine Trauer und seine in einer Art Waage lagen.
Auf dem Rückweg fragte er:
„Thomas?“
„Ja, Lukas?“
„Glaubst du, Papa und Paul wussten das? Dass wir uns treffen würden?“
„Ich weiß es nicht“, sagte ich. Und das stimmte. Ich weiß viel nicht.
„Ich glaube, sie haben das geplant“, sagte er. „Da oben.“
Vielleicht haben sie es. Vielleicht auch nicht.
Aber eines weiß ich:
Ich habe in jener Nacht an der Tankstelle angehalten.
Ich bin nicht einfach weitergefahren.
Ein Junge im Dino-Schlafanzug hat mein Bein gepackt und „Papa“ gesagt.
Und auch wenn ich nie sein Vater sein werde, hat er mich zurück ins Leben gezogen.
Manchmal, glaube ich, tragen Engel keine Flügel.
Manchmal tragen sie Schlafanzüge mit Dinosauriern und bestehen darauf, dass du weiter pfeifst, bis die Albträume leiser werden.
Manchmal sieht Heilung nicht aus wie große Worte oder perfekte Antworten.
Manchmal sieht sie aus wie ein Mann, der jemand anderem Kind Fahrradfahren beibringt.
Manchmal schickt dir das Leben nicht die Menschen zurück, die du verloren hast.
Aber es schickt dir jemanden, der genau in die Lücke passt, die sie hinterlassen haben – anders, aber richtig.
Wir sind immer noch alle ein bisschen kaputt:
Lukas mit seinem Loch im Herzen, wo Markus fehlt.
Anna mit ihrer ständigen Angst vor dem nächsten Verlust.
Ich mit siebzehn Jahren Flucht im Rücken.
Aber wir sind jetzt zusammen kaputt.
Und irgendwie – auf eine leise, deutsche, unaufgeregte Art – macht uns das ein bisschen ganz.






