Teil 4: Der fremde Brief
Als Leni am nächsten Morgen die Augen öffnete, wusste sie sofort, dass etwas anders war.
Es war nicht das Licht, das durchs Fenster fiel. Nicht der Wind, der leise an der Scheibe kratzte. Es war das Gefühl. Ein Ziehen im Bauch. Ein Kribbeln im Nacken, wie wenn man weiß, dass gleich etwas passiert.
Sie tastete unter ihr Kopfkissen.
Da war etwas.
Ein Papier. Aber nicht von ihr. Kein kariertes Schulheftblatt. Kein vertrauter Knick.
Sie zog es hervor. Alt. Dünn.
Vorsichtig entfaltete sie es.
Diesmal war es kein Brief von ihr an Knopf.
Sondern ein Brief an sie.
Liebe Leni,
Ich bin dir näher, als du glaubst.
Nicht alle können sehen, was du siehst. Nicht alle hören, was du hörst.
Aber du kannst fühlen. Und das ist mehr, als viele je lernen.
Lass die Briefe nicht enden. Schreib weiter.
Denn jeder Brief ist eine Brücke.
Und manchmal braucht die Seele genau das.
Für dich. Für ihn. Für andere.
Ein Freund
Leni hielt den Brief lange in den Händen. Ihre Finger waren kalt. Ihr Herz schlug schneller als sonst.
Ein Freund.
Wer war das?
Sie zog sich an, langsam, in Gedanken versunken.
Ihre Mutter war schon auf dem Weg zur Arbeit – sie hatte Frühdienst in der Apotheke.
Das Haus war still. Zu still.
Leni ging ins Wohnzimmer. Dort stand das alte Telefon auf dem kleinen Tisch neben dem Regal. Sie dachte kurz an Frau Winter – aber nein. Das war kein Brief von ihr. Er war… jünger geschrieben. Die Handschrift war rund, fast kindlich, aber sicher.
Dann erinnerte sie sich an die erste Zeile aus dem Ranzenbrief.
„Ich hab dich gesehen, Leni.“
Jemand in der Schule?
Sie schüttelte den Gedanken ab. Nein. Das war anders.
Das war… echter.
An diesem Vormittag war in der Schule Projektwoche. Leni hatte sich fürs Basteln mit Naturmaterialien entschieden. Sie mochte die Rinde, das Moos, den Geruch von frischem Leim. Es erinnerte sie an Knopfs nasses Fell nach dem Regen.
„Was baust du da?“, fragte Tim aus der Parallelklasse.
„Eine kleine Hütte“, sagte Leni. „Für jemanden, der nicht frieren soll.“
Tim nickte, ohne zu lachen. Er wirkte anders als sonst – ernster.
„Ich hatte auch mal einen Hund“, sagte er nach einer Weile.
„Er hieß Leo. Er wurde nur vier.“
Leni sah ihn an. Zum ersten Mal fühlte sie sich nicht allein mit ihrem Schmerz.
Nachmittags ging sie wieder zu Frau Winter. Ohne Ankündigung, ohne Zettel. Sie wollte nur… da sein.
„Du kommst genau richtig“, sagte Frau Winter.
„Ich hab etwas für dich.“
Aus einem alten Buchregal holte sie eine Kiste. Darin: Briefe.
Dutzende. Alle in der gleichen Schrift.
„Die habe ich Otto geschrieben. Nach seinem Tod. Jeden Tag einen. Für ein ganzes Jahr.“
Leni schluckte.
„Und… hat es geholfen?“
Frau Winter lächelte traurig. „Es hat nicht geheilt. Aber es hat gehalten. Mich. Und ihn.“
Zuhause setzte sich Leni an ihren kleinen Schreibtisch.
Sie nahm ein neues Blatt, atmete tief durch.
Lieber Freund,
Ich weiß nicht, wer du bist.
Aber danke, dass du mich siehst.
Ich dachte, ich sei allein mit meinen Briefen. Aber vielleicht bin ich das gar nicht.
Vielleicht ist es wie bei Sternen. Man sieht sie nicht immer. Aber sie sind da.
Ich werde weiterschreiben. Versprochen.
Deine Leni
Sie faltete den Brief sorgfältig. Dann nahm sie ein Glas, stellte es draußen vor die Haustür – und legte den Brief darunter.
Wenn jemand ihn holen sollte, würde er ihn finden.
In der Nacht träumte sie von einer Treppe.
Eine lange, hölzerne Treppe, die sich durch einen Wald schlängelte. Sie ging sie barfuß hinauf. Knopf lief vor ihr, sah sich immer wieder um, wartete.
Oben angekommen, öffnete sich der Wald zu einer Lichtung. In der Mitte: eine Bank. Darauf lag ein Brief.
Sie wachte auf, bevor sie ihn lesen konnte.
Am nächsten Tag war der Brief verschwunden.
Das Glas stand noch da. Leer.
Leni grinste.
Irgendjemand da draußen hatte ihn gefunden.
In der Schule arbeitete sie weiter an ihrer Hütte. Sie klebte kleine Äste, formte ein Dach aus Moos, schnitt eine Tür aus Rinde.
„Für Knopf?“, fragte Tim leise.
Sie nickte.
Er sagte nichts weiter, aber beim Gehen drückte er ihr einen kleinen Zettel in die Hand.
Ich hab’s auch gemacht.
Vielleicht braucht Leo auch ein Haus.Tim
Als sie nach Hause kam, wartete auf ihrer Fensterbank ein Brief.
Keine Adresse. Kein Name. Nur ein Herz aus Bleistift auf dem Umschlag.
Sie öffnete ihn mit zitternden Händen.
Liebe Leni,
Manchmal hinterlassen wir Spuren.
Und manchmal folgen andere ihnen.Du hast mir Mut gemacht, wieder zu schreiben.
Vielleicht helfen deine Briefe nicht nur dir.
Vielleicht auch denen, die dich lesen.Bleib mutig. Bleib du.
Dein Freund
Leni legte den Brief in ihre Holzkiste.
Neben Knopfs Halsband.
Neben dem ersten Zettel.
Neben all dem, was blieb.
Dann nahm sie ein neues Blatt.
Knopf,
Ich glaub, du hast nicht nur mir geholfen.
Du hast andere geweckt.Vielleicht war das deine Aufgabe.
Ich hoffe, da wo du bist, gibt’s Käse und Wiesen.
Und Bälle, die man nie zurückgeben muss.Ich schreibe weiter. Jeden Tag.
Für dich. Für mich. Für die, die still sind.Deine Leni
Doch dann kam der Tag, an dem Leni aufhörte zu schreiben – und etwas Unerwartetes geschah.