Teil 9: Der Brief an Knopf
Es war der erste Frühlingstag, den man wirklich spürte. Die Luft war weich wie ein alter Schal, der Wind trug den Geruch von feuchter Erde und wachsendem Gras. Leni saß auf der Fensterbank, die Knie angezogen, das Tagebuch auf dem Schoß. Seit Tagen hatte sie keinen neuen Brief geschrieben. Nicht, weil sie nichts zu sagen hatte, sondern weil alles gesagt schien.
Knopf war da gewesen. Streifen auch. Und ihr Herz… ihr Herz war leiser geworden. Nicht leer. Nur stiller.
Dann klingelte der Postbote.
„Leni! Was für dich dabei“, rief ihre Mutter aus dem Flur.
Sie sprang von der Bank, lief hinunter – und hielt plötzlich einen Umschlag in der Hand, den sie nicht verstand.
Vorne stand in verschnörkelter Schrift:
„An Knopf.“
Nicht „an Leni“. Nicht „an Familie…“
Sondern an ihren Hund.
Sie ging langsam zurück in ihr Zimmer, als trüge sie etwas Zerbrechliches.
Sie setzte sich auf ihr Bett, betrachtete den Umschlag.
Kein Absender. Keine Briefmarke. Nur das eine Wort:
Knopf.
Sie zögerte.
Dann öffnete sie ihn.
Darin: ein einzelnes Blatt, handgeschrieben.
Lieber Knopf,
Ich weiß nicht, ob du Briefe bekommst.
Aber falls du diesen hier liest, dann hoffe ich, du erinnerst dich.Ich war der Junge auf der Straße, der dich einmal gestreichelt hat, als du nass warst.
Ich war der, der dir heimlich Wurst vom Pausenbrot hingelegt hat.Ich hab nie deinen Namen gekannt – bis ich Leni kennengelernt habe.
Jetzt weiß ich ihn.
Und ich weiß, dass du für sie mehr warst als nur ein Hund.
Du warst Freund, Zuhörer, Tröster, Herzträger.Ich wollte dir nur sagen:
Du hast etwas hinterlassen.In ihr. Und… auch in mir.
Danke.
Dein Freund,
Tim
Leni hielt das Blatt in den Händen. Ihre Augen brannten.
Tim.
Der Junge mit den dunklen Haaren. Der Leo verloren hatte.
Der beim Basteln geschwiegen hatte – aber nicht vergessen.
Sie wusste nicht, was sie fühlte.
Etwas zwischen Wehmut und Freude.
Wie ein leiser Sonnenstrahl auf einen alten, rissigen Brief.
Nachmittags in der Schule wartete sie auf Tim.
Am Fahrradständer stand er, wie immer, mit seinem alten Rucksack.
„Warst du das?“, fragte sie einfach.
Er sah sie an. Dann nickte er.
„Ich dachte, Knopf sollte auch mal Post bekommen.“
Sie lächelte.
„Danke.“
„Ich hab auch geschrieben. Früher“, sagte Tim.
„Aber nie abgeschickt. Jetzt weiß ich: Man kann auch Briefe schreiben, wenn niemand antwortet.“
Leni nickte.
Sie verstand.
„Willst du ihn sehen?“, fragte sie.
„Wen?“
„Knopfs Platz.“
Am Nachmittag gingen sie gemeinsam zum Apfelbaum.
Leni zeigte ihm die Kiste.
Sie holte den ersten Brief hervor. Den mit dem angeknabberten Bleistift geschriebenen.
Dann das Halsband. Das alte Foto von Klara und Max. Den Abdruck von Streifen. Den Brief ihres Vaters.
Und nun… auch Tims Brief.
„Das ist wie ein Museum“, sagte Tim leise.
„Ein Museum der Erinnerung.“
„Oder ein Postamt“, sagte Leni.
„Für die, die nicht mehr antworten – aber trotzdem lesen.“
An diesem Abend schrieb sie wieder.
Nicht an Knopf. Nicht an Streifen.
Sondern an Tim.
Lieber Tim,
Danke, dass du geschrieben hast.
Knopf hätte dich gemocht. Ich bin mir sicher.
Ich hab heute zum ersten Mal gemerkt, dass Briefe nicht nur trösten –
sondern verbinden.Du bist nicht allein. Und ich auch nicht.
Vielleicht sind wir beide Briefträger.
Nicht mit Taschen.
Sondern mit Herzen.Deine Leni
Sie legte den Brief nicht in die Kiste.
Sie faltete ihn – und steckte ihn Tim am nächsten Tag in sein Federmäppchen.
Er sah sie nicht an. Aber er lächelte.
Ein paar Tage später – es war ein stiller Samstag – saß Leni am Apfelbaum, die Kiste auf den Knien, die Briefe in der Hand.
Und da kam ihre Mutter.
Langsam. Ohne Schuhe. Nur in dicken Wollsocken und mit einem Buch in der Hand.
Sie setzte sich neben sie.
„Darf ich mit dir lesen?“
„Ja“, sagte Leni.
Sie legten gemeinsam die Briefe aus.
Chronologisch.
Von Knopfs Unfall bis zu Streifen. Von Papa bis Tim. Von Trauer bis Trost.
Es war nicht still.
Aber es war ruhig.
Ein Unterschied, den man erst versteht, wenn man jemanden verloren hat.
Als es dämmerte, zündeten sie eine kleine Kerze an.
Und legten sie in die Kiste.
Leni schrieb noch einen letzten Brief an diesem Abend.
Lieber Knopf,
Ich habe heute deine Geschichte gezeigt.
Nicht als Traurigkeit. Sondern als Geschenk.
Ich hoffe, du weißt, dass du geblieben bist.
Nicht im Körper. Aber in uns.
In Tim.
In Mama.
In mir.Und in allen, die noch schreiben werden.
Deine Leni
Sie faltete den Brief.
Und steckte ihn – diesmal – nicht weg.
Sondern sie stellte sich in den Wind.
Öffnete die Hände.
Und ließ das Blatt fliegen.
„Doch am letzten Schultag vor den Osterferien geschah etwas, das selbst Leni nicht erwartet hatte.“