Lenas Gartensommer | Als Lena die alte Hündin hütete, öffnete sich ein verborgenes Tor in die Vergangenheit

🐾 Teil 4: Erinnerungen erwachen

Die Stille im Wohnzimmer war so dicht, dass Lena meinte, ihr eigener Atem müsse die Scheiben beschlagen.
Lotta stand noch immer, die Beine schwankten unter ihr, doch der Blick war unbeirrbar auf den Birnbaum gerichtet.
Das Knacken kam erneut, tiefer diesmal, wie ein verborgenes Echo aus der Erde.
Lena legte ihre Hand auf das Halsband, das auf dem Tisch lag, als könnte es ihr Halt geben.
Der Schlüssel in ihrer Faust war schwer, als sei er mit einer fremden Schwere beladen.

Sie öffnete die Terrassentür.
Die Luft war feucht, die Wiese klebrig unter ihren Schuhen.
Der Hahn begleitete sie mit langsamen Schritten, blieb dicht neben ihrer Wade, als spürte auch er die Wichtigkeit des Moments.
Vom Rosenstrauch huschte der Igel fort, nur um dann wieder innezuhalten und sich zum Baum zu wenden.
Der Garten schien zu atmen, als würde er auf sie warten.

Am Stamm des Birnbaums perlten Wassertropfen wie kleine Perlenketten.
Dort, wo die Wurzel sich teilte, lag Erde locker aufgeschoben, als hätte jemand mit einer Hand darin gewühlt.
Zwischen den Grasbüscheln glänzte es schwach, fast so, als blinzelte ein Auge im Boden.
Lena kniete sich nieder.
Sie legte den Schlüssel neben sich und begann, mit den Fingern die Erde zur Seite zu streifen.

Der Boden war weich vom Regen, ließ sich leicht lockern.
Bald spürte sie Holz, rau und feucht, mit Spuren von Moos.
Sie grub weiter, die Hände schwarz, das Herz pochte laut in den Ohren.
Ein Deckel kam zum Vorschein, ein eiserner Beschlag, von Rost durchzogen.
Sie wischte den Schlamm ab, entdeckte ein Schloss, das wie gemacht für den Schlüssel war.

Ein Windstoß fuhr durch die Zweige, ließ die Blätter rauschen wie Stimmen.
Lena drehte sich um.
Durch die offene Terrassentür sah sie Lotta, die noch immer stand, trotz der schwachen Beine.
Die Augen der Hündin waren nicht müde, sondern weit und wach.
Es war, als sähe sie durch die Zeit hindurch.

Mit zitternden Fingern setzte Lena den Schlüssel ins Schloss.
Er passte.
Langsam drehte sie ihn, das Metall knirschte, dann ein Klicken, das tiefer war als alle Geräusche um sie herum.
Sie hob den Deckel an, schwer, widerwillig, als sträube sich die Vergangenheit selbst.
Ein süßlicher Geruch stieg ihr entgegen, nach alter Erde und verblichenem Papier.

Im Inneren lag eine Truhe, kleiner als erwartet, kaum größer als ein Schuhkarton.
Sie war mit einem Leinentuch ausgeschlagen, das von Feuchtigkeit stockfleckig geworden war.
Darauf lagen Bündel von Briefen, sorgfältig mit Schnur gebunden.
Daneben ein Fotoalbum, die Ecken rund, das Schwarzweiß verblasst.
Und unter all dem ein kleines Kästchen aus Blech.

Lena nahm ein Bündel Briefe in die Hand.
Die Schrift auf den Umschlägen war die ihres Großvaters, das erkannte sie sofort.
Jeder Brief trug ein Datum, die ältesten aus den fünfziger Jahren.
Sie wollte die Schnur lösen, doch ihre Finger gehorchten nicht, als hielte sie etwas Heiliges, das nicht ohne Segen geöffnet werden durfte.
Sie legte die Briefe zurück und hob stattdessen das Blechkästchen heraus.

Es war leicht.
Sie öffnete es und darin lag, sorgfältig gefaltet, ein rotes Stoffband.
Es war ausgeblichen, aber an den Kanten schimmerte noch immer die alte Farbe.
Lena nahm es heraus, und es roch nach Rauch und Sommer, nach etwas, das einmal gelebt hatte.
Sie verstand nicht, warum, doch Tränen stiegen ihr in die Augen.

Ein Geräusch ließ sie aufschrecken.
Hinter ihr knackte ein Ast, dann hörte sie das leise Winseln von Lotta.
Die Hündin war ihr bis zum Birnbaum gefolgt, stand nun wenige Schritte entfernt, die Augen auf das Band geheftet.
Lena hielt es ihr hin, und Lotta legte die Schnauze daran, atmete tief, als erkenne sie darin etwas aus ihrer Jugend.
Ein Zittern ging durch ihren Körper, kein Schmerz, sondern eine Erinnerung.

Das Fotoalbum glitt aus der Truhe, schlug im Gras auf.
Es öffnete sich von selbst, und auf der ersten Seite lag ein Bild:
Oma Margarete, jung, lachend, mit einem Hund an ihrer Seite, der Lotta zum Verwechseln ähnlich sah.
Neben ihr der Großvater, ernst, aber mit einem Blick, der mehr sagte als jedes Wort.
Unter dem Bild stand in Bleistift: „Sommer 1960, unser Anfang.“

Lena fuhr mit dem Finger über das Foto, spürte die feinen Rillen im Papier.
Ihr Herz schlug schnell, als sie begriff, dass das Band, das Halsband und die Briefe zusammengehörten, Teile einer Geschichte, die nun an sie weitergegeben wurde.
Doch bevor sie weiterdenken konnte, hörte sie plötzlich ein tiefes Grollen.
Nicht aus der Ferne, nicht vom Himmel.
Es kam aus dem Inneren des Gartens, dumpf, erdig, als rühre sich etwas unter den Wurzeln.

Lotta hob den Kopf, bellte einmal, laut und klar, so kraftvoll, dass selbst der Hahn erschrocken flatterte.
Der Igel rollte sich zusammen, als wolle er warten, bis alles vorüber sei.
Lena stand wie versteinert da, das rote Band in der Hand, während das Grollen anhielt.
Dann verstummte es so plötzlich, wie es begonnen hatte.

Die Erde war still, der Garten wieder leise.
Nur das Bild im Album lag offen, die Gesichter der Großeltern blickten sie an, als wollten sie etwas sagen.
Lena drückte das Band an ihre Brust, spürte die Wärme, die von Lotta ausging, und wusste:
Dies war erst der Anfang.
Und das, was unter der Erde ruhte, würde nicht ewig verborgen bleiben.

Scroll to Top