🐾 Teil 5: Der Name des Großvaters
Lena blieb wie angewurzelt stehen.
Der Regen hing noch in der Luft, feiner Staub auf den Blättern, und vor dem Gartenzaun regte sich die Gestalt kaum.
Der Mann stand dort, den Hut tief ins Gesicht gezogen, die Schultern schmal, die Kleidung dunkel vor Nässe.
Lotta knurrte leise, die Lefzen angespannt, obwohl ihre Beine schwach bebten.
„Wer sind Sie?“ rief Lena mit einer Stimme, die stärker klang, als sie sich fühlte.
Der Mann hob langsam den Kopf. Seine Augen glänzten seltsam hell im Halbdunkel, als stammten sie aus einer anderen Zeit. Dann sprach er mit rauer Stimme: „Sag Margarete, dass Wilhelm gekommen ist.“
Der Name traf Lena wie ein Schlag. Wilhelm. Sie kannte ihn, hatte ihn in den Briefen gelesen, die sie aus der Kiste gezogen hatte, und ihre Mutter hatte von ihm erzählt, wenn sie von früher sprach. Wilhelm war ihr Großvater, gestorben lange vor ihrer Geburt. Sein Name stand auf einem schlichten Grabstein am Rande von Heidenheim.
„Das ist unmöglich“, flüsterte sie. „Mein Großvater ist tot.“
Der Mann bewegte sich nicht, nur der Regen rann über sein Gesicht. Für einen Augenblick schien es, als löse sich die Grenze zwischen Erinnerung und Wirklichkeit.
„Manches stirbt nicht“, sagte er leise. „Manches bleibt im Garten. Schuld, Versprechen, Treue. Sie suchen sich einen Weg zurück.“
Lena wich einen Schritt zurück, das Herz hämmerte ihr bis in die Kehle. Sie klammerte sich an das rote Halsband, das auf dem Tisch lag, als könnte es sie schützen.
„Sie können nicht Wilhelm sein“, stieß sie hervor. „Sie lügen!“
Doch die Gestalt reagierte nicht zornig. Ein tiefer Seufzer entwich ihr, schwerer als der Wind, der durch die Bäume fuhr. „Ich komme nicht, um zu bleiben“, sagte er. „Ich komme, um zu übergeben, was noch nicht erlöst ist.“
Dann drehte er sich um.
Die Gartentür quietschte, ein dumpfes Knarren im Regen.
Im nächsten Moment war er verschwunden, als hätte der Garten ihn verschluckt.
Am nächsten Morgen machte Lena sich auf den Weg ins Krankenhaus.
Ihre Gedanken kreisten unablässig um den Namen. Wilhelm.
Sie sah die Briefe vor sich, die zitternde Handschrift, die sehnsüchtigen Worte an Margarete.
Sie hörte die Stimme ihrer Mutter, die von einem Mann gesprochen hatte, den der Krieg geprägt und das Leben genommen hatte.
Und jetzt stand dieser Name lebendig in ihrem Garten.
Als sie das Zimmer betrat, lag ihre Großmutter mit geschlossenen Augen da. Doch als Lena die Tür leise hinter sich schloss, öffneten sich die Lider. Ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Mein Kind“, flüsterte sie. „Etwas liegt auf deinem Herzen.“
Lena setzte sich ans Bett, zögerte einen Moment, dann erzählte sie. Von der Gestalt im Regen, vom Garten, vom Namen.
Die Finger der Großmutter verkrampften sich, Tränen sammelten sich in den alten Augen.
„Wilhelm…“ hauchte sie. „Ja, das war sein Name.“
„Aber wie kann ich ihn sehen?“ fragte Lena. „Er ist doch gestorben.“
Die Großmutter schwieg lange, als müsse sie die richtigen Worte aus der Tiefe holen. Schließlich sagte sie: „Er hat mehr von sich hier gelassen, als man glauben möchte. Dieser Garten trägt seine Spuren. Die Briefe, die Erinnerungen, und auch die Hunde. Nichts davon geht wirklich verloren.“
Lena spürte, wie ihre Kehle brannte. „Aber warum ich? Ich bin doch nur ein Kind.“
Die alte Frau streichelte ihre Hand, die Berührung schwach, aber voller Wärme. „Weil du nicht nur schaust, sondern siehst. Weil du hörst, wo andere taub sind. Und weil Lotta dich führt. Hör auf sie, hör auf den Garten. Er sagt dir, was zu tun ist.“
Ihre Stimme wurde leiser, das Lächeln schwächer, doch der Blick blieb fest.
„Du bist nicht allein, Lena.“
Am Nachmittag kehrte Lena ins Haus zurück.
Der Garten lag still, nur ein leichter Wind spielte in den Zweigen.
Sie trat hinaus, blieb unter dem Birnbaum stehen.
Das Gras war noch feucht, die Erde dunkel.
Sie spürte die Worte der Großmutter in sich nachhallen: Hör auf den Garten. Hör auf Lotta.
Die Hündin kam langsam über den Rasen, müde, aber mit erhobenem Kopf.
Ihre Augen trafen die von Lena, tief und still, als wüssten sie längst mehr.
Lena kniete sich nieder, legte die Arme um das schwere, graue Fell.
„Wenn er wirklich zurückgekehrt ist“, flüsterte sie, „wenn die Vergangenheit noch lebt… dann darf ich mich nicht fürchten.“
Ein Windstoß ließ die Blätter rauschen, als Antwort.
Und aus dieser Bewegung heraus hörte sie etwas, das wie ein fernes Flüstern klang.
Kein Befehl, kein Schrei, nur ein schlichtes Wort, das im Abend blieb: „Hier.“
Lena hielt Lotta fester und wusste, dass es keinen Weg zurück gab.
Sie musste herausfinden, was der Garten noch verbarg.