🐾 Teil 6: Die Warnung im Sturm
Der Mann am Zaun bewegte sich nicht.
Seine Silhouette war nur schwach zu erkennen, das Licht der untergehenden Sonne warf lange Schatten über den Garten.
Lena spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte.
Sie legte die Hand beruhigend auf Lottas Kopf, doch die Hündin blieb angespannt, die Lefzen leicht zurückgezogen, ein Knurren tief in der Kehle.
Die Vögel in den Bäumen waren verstummt, selbst der Hahn verhielt sich still.
„Wer sind Sie?“ rief Lena, ihre Stimme fester, als sie sich fühlte.
Keine Antwort kam, nur das Rascheln der Blätter im Abendwind.
Der Mann stand noch immer dort, als gehöre er zum Garten.
Dann hob er langsam die Hand zum Hut und zog ihn vom Kopf.
Das Gesicht blieb im Schatten, doch Lena erkannte das silberne Haar, das sich darin verfing.
Er trat einen Schritt vor, lehnte sich an das Holz des Zauns.
„Ich bin kein Fremder“, sagte er leise, fast rau. „Ich habe diesen Garten gekannt, lange bevor du darin standest.“
Lena fröstelte, obwohl der Sommerabend noch warm war.
„Meine Großmutter ist nicht da“, antwortete sie. „Wenn Sie etwas wollen, sagen Sie es mir.“
Wieder blieb ein Moment Stille, dann nickte der Mann, langsam, bedächtig.
„Sag ihr, dass Wilhelm gekommen ist.“
Das Wort hing schwer in der Luft, als sei es mit Jahren beladen.
Lena kannte den Namen. Sie hatte ihn in den Briefen gelesen.
Wilhelm war der Großvater.
Doch der Großvater war tot, schon viele Jahre.
„Das ist unmöglich“, flüsterte sie. „Mein Opa ist gestorben, bevor ich geboren wurde.“
Der Mann am Zaun senkte den Kopf, als trüge er die Schwere dieser Worte selbst.
„Tot für manche, lebendig für andere“, sagte er schließlich. „Manches bleibt im Garten. Manches findet zurück.“
Dann wandte er sich ab, Schritt für Schritt, bis er im Schatten verschwand.
Nur das Knarren der Pforte war noch zu hören, dann war er fort.
Lena blieb wie versteinert stehen.
War es ein Traum, eine Einbildung?
Doch Lotta hatte ihn gesehen, darauf ließ sich nicht zweifeln.
Die Hündin stand noch immer am Rand der Terrasse, die Augen auf die Stelle gerichtet, wo der Mann gestanden hatte.
Und als Lena die Hand senkte, spürte sie, dass das Halsband, das sie trug, wärmer geworden war.
Die Nacht kam schnell.
Lena schloss die Türen, zog die Vorhänge zu, doch die Gedanken ließen sie nicht los.
Sie legte das rote Stoffband, den Schlüssel und das Gartenbuch auf den Tisch.
Die drei Dinge schienen in der Dunkelheit zu leuchten, als hätten sie eine eigene Glut.
Lotta schlief schließlich ein, aber Lena lauschte lange in die Stille, bis sie selbst wegsank.
Am nächsten Morgen war der Garten friedlich, als sei nichts geschehen.
Die Sonne stand klar am Himmel, der Tau glitzerte im Gras, der Hahn krähte sein schrilles Lied.
Lena stand am Fenster und sah hinaus.
Sie fragte sich, ob sie die Begegnung der Oma erzählen sollte.
Würde man ihr glauben? Oder war es eine Botschaft gewesen, die nur für sie bestimmt war?
Sie beschloss, ins Krankenhaus zu gehen.
Vielleicht würde die Großmutter die Wahrheit kennen.
Bevor sie das Haus verließ, kniete sie sich zu Lotta hinunter.
„Bleib hier, ich bin bald zurück“, sagte sie, und die Hündin legte die Schnauze still in ihre Hand, als verstünde sie.
Dann machte sie sich auf den Weg.
Im Krankenzimmer war es still.
Die Oma lag mit geschlossenen Augen, doch als Lena eintrat, öffnete sie sie langsam.
Ein Glanz trat hinein, schwach, aber warm.
„Du siehst aus, als hättest du etwas gesehen“, sagte sie, die Stimme brüchig, aber fest.
Lena erzählte stockend, vom Mann am Zaun, vom Namen, von den Worten.
Die Oma schwieg lange.
Dann flüsterte sie: „Wilhelm… Er hat diesen Garten mehr geliebt als alles andere. Wenn er dir erschienen ist, dann weil du jetzt Teil seiner Last trägst. Es ist nicht Furcht, die er bringt, sondern Erinnerung. Manchmal kommen die Erinnerungen, wenn wir sie am wenigsten erwarten.“
Lena nickte, aber die Kälte in ihrem Rücken blieb.
„Was soll ich tun?“ fragte sie leise.
„Höre auf den Garten“, antwortete die Großmutter. „Und auf Lotta. Sie weiß, wann der richtige Moment gekommen ist. Dann wirst du verstehen.“
Die Worte waren kaum mehr als ein Hauch, doch sie brannten sich in Lenas Herz.
Sie hielt die Hand der Oma, bis diese wieder einschlief.
Dann verließ sie das Zimmer mit einem Gefühl, das zugleich Angst und Hoffnung war.
Am Abend kehrte sie zurück zum Haus.
Der Garten lag friedlich da, doch in der Ferne, am Birnbaum, sah sie erneut ein Glitzern.
Sie nahm die Lampe, trat hinaus, und diesmal folgte Lotta ihr sofort.
Der Igel huschte am Zaun entlang, der Hahn flatterte auf den Pfosten, als sei er ein Wächter.
Alles schien auf diesen Moment gerichtet.
Unter den Wurzeln lag etwas Neues.
Ein Stück Metall ragte aus der Erde, halb verborgen, wie ein weiterer Schlüssel oder vielleicht ein Schloss.
Lena kniete nieder, ihre Hände zitterten, als sie den Boden zur Seite schob.
Lotta stand dicht neben ihr, die Augen auf das Metall geheftet.
Und gerade als Lena es freilegte, ging ein Schauer durch die Erde, so stark, dass der Baum selbst bebte.
Der Garten war nicht mehr still.
Etwas hatte begonnen, das größer war als sie beide.
Lena hielt das Metallstück in der Hand, kalt, fremd, und wusste, dass der nächste Schritt unausweichlich war.