Lenas Gartensommer | Als Lena die alte Hündin hütete, öffnete sich ein verborgenes Tor in die Vergangenheit

🐾 Teil 8: Abschied am Krankenbett

Der Regen fiel in Strömen, als Lena dem Mann gegenüberstand.
Er stand reglos am Zaun, der Hut tropfte, sein Gesicht halb verborgen im Schatten.
Lotta bellte einmal, ein kurzer, entschlossener Laut, der mehr war als Warnung.
Der Mann hob langsam den Kopf, und in seinen Augen lag ein Leuchten, das Lena frösteln ließ.
Es war kein Leuchten von Leben, sondern von Erinnerung.

„Du hast gefunden, was verborgen war“, sagte er mit rauer Stimme.
„Das Band, die Briefe, die Plakette.“
Lena hielt die Tasche fester, in der alles lag.
„Wer sind Sie wirklich?“ fragte sie, der Regen rann ihr über das Gesicht.
„Wilhelm Hartmann“, erwiderte er. „Dein Großvater. Nicht so, wie du ihn dir vorstellst, sondern so, wie er geblieben ist im Garten.“

Lena wollte widersprechen, doch sie spürte, dass Worte hier nicht galten.
Der Garten rauschte, die Bäume schwankten, der Wind wirbelte Blätter über den Boden.
Lotta trat einen Schritt vor, ihre schwachen Beine zitterten, aber ihr Blick war fest.
„Warum zeigen Sie sich?“ rief Lena über den Lärm des Gewitters.
„Weil die Zeit drängt“, antwortete er. „Es gibt Dinge, die nicht im Boden vergraben bleiben dürfen.“

Er trat näher an den Zaun, so nah, dass Lena die Konturen seines Gesichts sehen konnte.
Er war alt, die Wangen eingefallen, aber die Augen lebten, klar wie Wasser.
„Die Truhe ist nur der Anfang. Darin liegt nicht nur unsere Geschichte, sondern die Schuld, die ich nie abgelegt habe. Und Schuld, Kind, sucht sich immer jemanden, der sie weiterträgt.“
Lena spürte, wie ihr Herz in der Brust hämmerte.
„Ich bin nicht hier, um deine Last zu tragen“, flüsterte sie, doch ihre Stimme zitterte.

„Du trägst sie schon“, erwiderte er. „Durch Lotta, durch den Garten, durch das Blut, das dich mit uns verbindet.“
Die Worte hallten nach, wie Donner, der nicht verging.
Lena fühlte, wie die Tasche an ihrem Arm schwerer wurde, als drücke die Vergangenheit selbst darauf.
Sie griff hinein, zog die Plakette hervor und hielt sie hoch.
„Meinen Sie das hier?“ rief sie. „Ist es das, was Sie wollen?“

Für einen Moment war nur Regen.
Dann hob der Mann die Hand, als wolle er danach greifen.
Doch er konnte es nicht. Seine Finger verharrten in der Luft, als stünden sie an einer unsichtbaren Grenze.
„Es gehört nicht mir“, sagte er schließlich, leiser nun, fast flehend.
„Es gehört dir, solange du Lotta an deiner Seite hast. Bewahre es. Löse, was wir nicht lösen konnten.“

Ein Blitz erhellte den Himmel, und als das Licht verging, war der Mann verschwunden.
Nur der Zaun tropfte noch, und das Gras lag platt vom Regen.
Lotta sank neben Lena nieder, erschöpft, aber ruhig.
Sie drückte die Plakette an die Brust, wusste aber nicht, ob sie sie behalten oder vergraben sollte.
Der Garten schwieg, als habe er seine Stimme vorerst zurückgenommen.

In dieser Nacht saß Lena lange am Küchentisch.
Das Gartenbuch lag vor ihr, daneben das Halsband, das rote Stoffband und die Plakette.
Die Worte der Großmutter gingen ihr durch den Kopf: Verantwortung heißt, auch die Stille auszuhalten.
Doch wie sollte sie die Stille aushalten, wenn der Garten selbst voller Stimmen war?
Sie schrieb in ihr Tagebuch, jede Einzelheit, als müsse sie das Gesehene festhalten, um nicht daran zu zerbrechen.

Am nächsten Tag war die Luft klar und kühl.
Die Sonne schien, als wäre nichts geschehen.
Doch im Garten wirkten die Farben schärfer, die Schatten dunkler.
Lotta lag im Gras, die Augen halb geschlossen, aber wachsam.
Der Hahn stolzierte durch die Beete, der Igel huschte am Zaun entlang, und Schmetterlinge tanzten über den Pfingstrosen.

Lena setzte sich neben Lotta und legte das Halsband in ihren Schoß.
„Was soll ich tun?“ fragte sie leise.
Die Hündin hob den Kopf, sah sie lange an, und in diesem Blick lag kein Zweifel.
Es war, als sage sie: Folge dem Weg, auch wenn er dich erschreckt.
Lena nickte, auch wenn ihr Herz schwer war.

Am Nachmittag machte sie sich erneut auf den Weg ins Krankenhaus.
Sie wollte mit der Oma sprechen, ihr alles erzählen, von der Erscheinung, vom Regen, von den Worten.
Doch als sie das Zimmer betrat, lag die Oma still da, die Augen geschlossen, der Atem flach.
Dr. Brenner stand daneben, sah auf, als Lena eintrat, und schüttelte kaum merklich den Kopf.
„Es wird nicht mehr lange dauern“, sagte er leise.

Lena setzte sich ans Bett, nahm die Hand der Großmutter.
„Ich habe ihn gesehen“, flüsterte sie. „Er hat mit mir gesprochen.“
Die Oma öffnete die Augen noch einmal, ein schwaches Lächeln zog über ihr Gesicht.
„Dann weißt du, dass du nicht allein bist“, sagte sie kaum hörbar.
Ihre Finger schlossen sich um Lenas Hand, dann sanken sie zurück.

Der Atem wurde langsamer, die Pausen länger.
Lena spürte, dass die Stunde gekommen war.
Sie beugte sich hinab, legte das rote Band in die Hand der Großmutter und flüsterte: „Ich werde alles bewahren. Ich verspreche es.“
Ein letzter Hauch entwich den Lippen der alten Frau.
Dann war der Raum still, und die Welt hatte sich verändert.

Draußen begann die Glocke der Krankenhauskapelle zu schlagen.
Lena saß noch lange neben dem Bett, die Hand ihrer Großmutter in ihrer, das Versprechen in ihrem Herzen.
Sie wusste, dass der Sommer nie mehr derselbe sein würde.
Und dass der Garten auf sie wartete, voller Geheimnisse, voller Schuld und voller Hoffnung.

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