🐾 Teil 4: Und wenn der Morgen zu spät kommt
Der Regen hielt die ganze Nacht.
Nicht laut. Aber unnachgiebig.
Er trommelte nicht – er sickerte.
Durch die Dachrinne, in die Blumenkästen, in den alten Spalt im Stalltor.
Und in Lillys Fell.
Als Hannelore in der Früh die Verandatür öffnete, spürte sie es sofort:
Etwas hatte sich verändert.
Der Garten war still.
Still nicht wie Schlaf –
still wie Erwartung.
Sie sah Lilly nicht.
Nicht bei der Bank.
Nicht beim Zaun.
Nur Frieda stand da.
Starr, reglos, der Kopf in den Nacken gestreckt, als lausche sie auf etwas, das tief unter der Erde sprach.
—
Hannelore lief.
So schnell ihre alten Beine sie trugen.
Sie rief nicht.
Sie wusste: Rufen würde nichts bringen.
Sie fand Lilly hinter dem Birnbaum.
Zusammengekrümmt.
Der Atem flach.
Die Augen halb geöffnet, aber nicht mehr ganz in dieser Welt.
Und da – auf ihrem Rücken –
der kleine Vogel.
Er saß einfach da.
Kein Flügelschlag. Kein Laut.
Als habe er sie durch die Nacht begleitet.
—
„Lilly…“
Hannelores Stimme brach.
Sie kniete sich ins nasse Gras.
Nässe durchdrang ihre Hose, ihr Knie schmerzte.
Aber das war egal.
Alles war egal.
Nur Lilly zählte jetzt.
Sie legte die Hand auf das verfilzte Fell.
Warm. Noch.
„Ich hab dir nie gesagt, wie sehr du mich gerettet hast,“ flüsterte sie.
„Nach Karl. Nach dem Stillwerden. Nach dem Brief.“
Der Regen ließ nach.
Und der Himmel begann sich zu klären.
—
Frieda kam näher.
Mit langsamen, feierlichen Schritten.
Sie stellte sich hinter Hannelore.
Sah nicht Lilly an.
Sondern in die Ferne.
Dorthin, wo der Weg zum Zaun führte.
—
Der Vogel flog auf.
Einmal.
Schwebte kurz über Lilly.
Dann landete er auf dem Brief.
Dem alten, vergilbten Brief, den Lilly vor Tagen mit der Pfote bewacht hatte.
Er pickte leicht daran, als wolle er etwas sagen.
Etwas Kleines, Dringendes.
Hannelore verstand es nicht.
Doch in diesem Moment
fiel ein Sonnenstrahl durch die Wolken –
und traf direkt auf den Umschlag.
—
Sie hob ihn auf.
Langsam.
Öffnete ihn.
Das Papier war weich geworden, beinahe durchsichtig.
Die Tinte verwischt an manchen Stellen.
Aber die Worte waren noch lesbar.
„Lieber Julian, ich habe dir nie gezeigt, was ich wirklich bereue.
Ich dachte, der Garten wäre ein Anfang.
Aber vielleicht war es Lilly, die dich hätte zurückführen sollen.
Ich habe zu lange geschwiegen.
Wenn du je zurückkehrst – sie wartet.
Immer.“Dein Vater.
—
Hannelore schloss die Augen.
Zum ersten Mal verstand sie,
warum Karl diesen Hund so ausgewählt hatte.
Warum er nie aufhörte, das Gartentor zu reparieren.
Warum er nie wieder über Julian sprach.
Lilly war kein Wachhund.
Sie war das Versprechen,
das er selbst nicht mehr halten konnte.
—
Der Tag schritt voran.
Lilly schlief wieder ein.
Nicht tief –
aber mit ruhigerem Atem.
Hannelore legte ihr eine alte Wolldecke über den Rücken.
Frieda wachte.
Und der Vogel?
Er flog in die Eberesche.
Von dort aus überblickte er alles.
—
Gegen Mittag kam Herr Kramer noch einmal.
„Ich wollte nach dem Zaun sehen“, sagte er.
Dann sah er Lilly.
Er schwieg.
Dann zog er eine kleine Blechdose aus der Jackentasche.
„Ich hab früher Wundsalbe für meine alte Dackelhündin selbst gemacht.
Nur aus Ringelblumen und Schweineschmalz.“
Er ging nicht näher, sondern stellte die Dose auf den Gartentisch.
Dann setzte er sich still auf die Bank, wartete.
Nicht auf Worte.
Auf Dasein.
—
Am Nachmittag rief Hannelore die Tierärztin.
„Ich weiß nicht, ob es Zeit ist. Aber… ich will nicht, dass sie leidet.“
Frau Dr. Berner versprach zu kommen.
„Gegen Abend bin ich da. Ich bring morphiumhaltige Tropfen mit. Vielleicht… hilft es ihr, besser zu atmen.“
Hannelore legte auf.
Ihre Hand zitterte.
Frieda sah sie an.
Ein langer, ruhiger Blick.
Dann schlug die Gans mit dem Flügel auf den Boden – einmal.
Fast wie ein Nicken.
—
Die Sonne sank.
Und als der Himmel sich golden färbte,
trat ein Fremder durchs offene Gartentor.
Er war schlank, trug einen alten Rucksack.
Bart, ein wenig ungepflegt.
Die Schuhe staubig.
Hannelore wollte aufstehen.
Doch dann blieb sie wie angewurzelt.
Denn der Mann blieb ebenfalls stehen.
Starrte auf Lilly.
Dann auf den Brief in ihrer Hand.
Dann auf den Garten.
Die Birnenblüten.
Die Gans.
„Ich hab…“
Seine Stimme brach.
„Ich hab in der Zeitung von Ihnen gelesen. Dass der Garten verkauft werden soll.“
Hannelore antwortete nicht.
Sie stand nur da, den Brief wie ein Stück brennendes Papier in der Hand.
„Ich bin Julian.“
—
Lilly hob den Kopf.
Langsam.
Einmal.
Ihre Ohren bewegten sich.
Dann – als spüre sie einen Geruch, der aus einem anderen Leben kam –
leckte sie über ihre Lefzen
und ließ den Kopf wieder sinken.
—
Der Vogel landete auf dem Rucksack.
Sah den Mann an.
Dann flog er wieder davon.
Hoch. Weit.
Bis nur noch ein Punkt blieb am Himmel.
Und dann nichts mehr.