🐾 Teil 6: Wenn ein Atemzug bleibt
Die Nacht fiel wie eine warme Decke über den Garten.
Nicht kalt – aber schwer.
So, als trüge sie Geschichten mit sich, die lange geschwiegen hatten.
Die Laterne auf dem Tisch flackerte sanft im Wind.
Ihr Licht tanzte über Friedas Rückenfedern, über Julians Hände, über Lillys ruhenden Leib.
Niemand sprach.
Denn es war nicht die Stunde für Worte.
Sondern für Nähe.
—
Lilly atmete langsam.
Tiefer als am Nachmittag, aber jedes Einziehen der Luft klang wie Arbeit.
Ihr Körper war müde.
Und doch wirkte sie wacher als je zuvor.
Julian saß neben ihr.
Die Hand auf ihrem Fell.
Sie war nicht mehr warm.
Aber auch nicht kalt.
„Ich habe lange gedacht, ich darf hier nie wieder herkommen“, sagte er leise.
Hannelore saß schräg hinter ihm, auf dem alten Gartenstuhl mit dem geflochtenen Sitz.
„Und was hat dich umgestimmt?“
„Ein Satz in einem Brief. Und ein Tier, das wartete.“
Er schwieg.
Dann:
„Ich dachte, sie wäre längst gestorben.“
„Ist sie nicht“, sagte Hannelore.
„Sie hat gewartet.“
—
Frieda lag mit eingezogenem Hals.
Ihre Augen waren geschlossen, aber sie schlief nicht.
Immer wieder hob sie den Kopf, blickte zu Lilly, dann wieder zum Apfelbaum.
Der Vogel war noch da.
Sein Schatten zeichnete sich auf dem Ast über ihnen ab – klein, fast unscheinbar.
Aber deutlich.
Wie eine letzte Silbe, bevor die Stille einsetzt.
—
Gegen Mitternacht wurde der Wind stärker.
Er rauschte nicht – er sprach.
Zwischen den Ästen, den alten Dielen, dem Dachfirst.
Wie ein leiser Gesang aus früheren Tagen.
Julian stand auf.
Er ging ein paar Schritte, zog die Jacke fester um sich.
Dann drehte er sich um.
„Sie war der Letzte, der mich noch kennt.“
Hannelore sah ihn an.
„Vielleicht ist sie auch der Erste, der dich noch sieht.“
Ein langer Blick.
Dann ging Julian zurück.
Kniete sich wieder neben Lilly.
Und begann, leise zu erzählen.
Von Frankreich.
Von der Arbeit im Süden.
Von Nächten ohne Adresse, von Menschen, die keine Vergangenheit wollten.
Und davon, wie still es war in den Jahren, in denen er nicht geschrieben hatte.
„Ich dachte, ihr habt mich längst aus euren Geschichten gelöscht.“
„Wir haben dich nie gelöscht“, sagte Hannelore.
„Aber irgendwann wird Schweigen schwerer als Trauer.“
—
Lilly bewegte sich kaum.
Doch als Julian seine Hand ruhen ließ, zuckte ein Muskel in ihrer Schulter.
Ein feines Signal.
So klein – dass nur einer es merkte, der früher mal ein Junge war,
der heimlich mit ihr unter dem Küchentisch schlief, wenn Gewitter kamen.
Er streichelte sie weiter.
Und plötzlich:
Ein ganz tiefer Atemzug.
Als wollte Lilly noch einmal die Luft dieser Welt kosten.
Den Garten.
Das Leben.
—
Dann kam ein Laut.
Zuerst dachten sie, es sei Frieda.
Aber die Gans schlief jetzt, tief eingerollt wie ein weißes Komma am Rand der Szene.
Der Laut kam vom Apfelbaum.
Der Vogel sang.
Nicht laut.
Aber wie durch den Schlaf hindurch.
Und diesmal klang es wie eine Melodie.
Unbekannt.
Und doch…
vertraut.
Julian hob den Kopf.
„Er macht das nur, wenn ich da bin“, sagte er leise.
„Vielleicht hat er dich erkannt“, sagte Hannelore.
„Oder vielleicht hat er auf dich gewartet. So wie Lilly.“
—
Als es dämmerte, änderte sich etwas.
Die Luft wurde leichter.
Nicht wärmer – aber stiller.
Der Tau legte sich auf jede Fläche, als wolle er etwas sanft bedecken.
Julian schlief nicht.
Seine Hand lag noch immer auf Lillys Rücken.
Und als er merkte, dass sie sich nicht mehr hob –
nicht mehr senkte –
da weinte er.
Nicht laut.
Nicht verzweifelt.
Es war ein Weinen, das nicht in der Kehle saß, sondern im ganzen Körper.
Hannelore trat leise hinzu.
Sie kniete sich zu ihm.
Und legte ihre Hand auf seine Schulter.
„Sie ist gegangen, nicht wahr?“ flüsterte er.
„Ja“, sagte Hannelore.
„Aber nicht allein.“
—
Frieda öffnete die Augen.
Sie stand auf, ganz langsam.
Trat zu Lilly.
Berührte sie mit dem Schnabel.
Dann schloss sie die Augen,
und legte sich wieder hin.
—
Der Vogel war verschwunden.
Einfach so.
Keine Federn, kein Laut, keine Spur.
Nur ein einzelnes, helles Blatt lag dort, wo er zuletzt gesessen hatte.
Ein Blatt, obwohl der Apfelbaum noch kein einziges verloren hatte.
—
Julian nahm Lillys Kopf behutsam in seine Hände.
Er küsste sie auf die Stirn.
„Danke“, flüsterte er.
Dann stand er auf.
Und blieb lange stehen.
„Ich möchte sie hier beerdigen“, sagte er.
„Unter dem Birnbaum.“
Hannelore nickte.
„Karl liegt dort auch.
Sie haben immer zusammen geschwiegen.“
—
Mit einer alten Schaufel, die schon Jahrzehnte im Geräteschuppen hing, begann Julian zu graben.
Nicht hektisch.
Nicht wie bei einer Arbeit.
Sondern wie bei einer Ehre.
Frieda stand dabei.
Die ganze Zeit.
Kein Laut.
Kein Flügelschlag.
Nur Stille.
—
Als Lilly im Boden ruhte, wickelten sie sie in die alte Decke vom Wohnzimmer.
Die, auf der sie in den letzten Wintern geschlafen hatte.
Hannelore legte den Brief ihres Mannes dazu.
Und Julian…
legte ein Halstuch hinein.
Das blaue mit den weißen Punkten, das er als Kind getragen hatte, wenn er mit ihr durch den Bach gewatet war.
—
„Was jetzt?“ fragte er.
Seine Stimme war brüchig.
„Jetzt? Jetzt frühstücken wir“, sagte Hannelore.
„Und dann… sehen wir weiter.“
Sie ging vor ins Haus.
Und Julian folgte.
Nicht als Gast.
Sondern als jemand,
der vielleicht bleiben konnte.