Lillys letzter Schnee | Ein Mädchen, eine Hündin, ein stiller Abschied: Wie ein Winter ein Leben heilte.

🔹 Teil 5 – Lillys letzter Schnee

Der April zog mit kühlen Nächten und blühenden Gärten durchs Dorf.
Lilly lag nun oft auf der Bank vor dem Haus – eine stille Wächterin mit schiefem Bein, bernsteinfarbenen Augen und einem ruhigen Blick, der die Nachbarn zum Verweilen einlud.
Manche streichelten sie wortlos, andere erzählten ihr Dinge, die sie keinem Menschen sagten.

Frau Meier hatte begonnen, ihr Haus aufzuräumen.
Nicht hektisch, nicht endgültig.
Aber sie sagte: „Wenn man das Ende nicht fürchtet, kann man anfangen, es zu ordnen.“

Paula verstand nicht alles, doch sie spürte, dass etwas in Bewegung war.
Etwas leises, Unaufhaltsames.


An einem Mittwochmorgen begleitete Paula Frau Meier ins Krankenhaus zur Untersuchung.
Sie hatte sich freigenommen – unter dem Vorwand eines „wichtigen Termins“. Ihre Mutter wusste Bescheid, sagte aber nichts weiter, außer: „Du bist schon größer, als du aussiehst.“

Im Wartebereich roch es nach Desinfektionsmittel und Kantinenkaffee. Paula hielt Frau Meiers Hand, während sie Formulare ausfüllte.
Die alte Frau hatte ein Tuch um die Schultern gelegt und trug ihren Sonntagsmantel.

„So, als ob man zur Beichte ginge“, murmelte sie.
Paula drückte ihre Hand fester.

Nach einer Stunde kam die Ärztin – freundlich, aber zu ehrlich.

„Wir sehen erste Schatten im oberen Lungenbereich. Noch ist nichts bestätigt. Aber wir würden gern weitere Tests machen.“

Frau Meier nickte.
„Wie lange habe ich Zeit, bevor ich’s wissen muss?“

„Zwei Wochen. Dann kommen die Ergebnisse.“

Draußen auf dem Parkplatz sagte Paula:
„Ich hab Angst.“

Frau Meier antwortete nicht.
Stattdessen schaute sie in den Himmel und sagte:
„Ich auch. Aber Angst ist nur der Beifahrer. Wir beide fahren.“


Zurück zu Hause ging sie direkt zu Lilly.
Kniete sich langsam hin, legte beide Hände in das weiche Fell.
Die Hündin hob den Kopf, schnüffelte, leckte leicht über Frau Meiers Wange.

Paula stand still in der Tür und sah zu.
In diesem Moment wusste sie: Lilly spürte es. Nicht die Diagnose. Aber das Kommende.


Am nächsten Tag holte Paula ein altes Notizbuch aus ihrem Schulrucksack.
Sie hatte angefangen, alles aufzuschreiben:

– wie Lilly sich beim Fressen benahm
– wann Frau Meier hustete
– was sie gemeinsam taten
– und was sie vielleicht noch tun sollten, solange es ging

Sie nannte es: „Was bleibt.“

In einer der ersten Seiten schrieb sie:

„Wenn Menschen gehen, bleiben Spuren.
Manche in der Erde. Andere im Herzen.
Und manche … in einem Hund.“


Frau Meier hatte ihre eigene Liste.

Sie schrieb auf, was Paula nicht wissen durfte.
Telefonnummern. Kontodaten. Eine Vollmacht für Dr. Seifert, falls es schnell gehen müsste.
Und einen Brief – handschriftlich, mit blauer Tinte, in ihrer alten, eckigen Schrift.

Sie faltete ihn sorgfältig und legte ihn in die Keksdose, die seit Jahrzehnten über dem Kühlschrank stand.
Der Zettel auf der Dose lautete: „Nur öffnen, wenn ich nicht mehr zurückkomme.“


In der zweiten Woche kam ein Brief vom Verlag.

Paulas Text „Was bedeutet Zuhause?“ hatte beim überregionalen Wettbewerb den dritten Platz gewonnen – 100 Euro Preisgeld und eine Veröffentlichung in einem Jugendbuch.

Paula rannte wie der Wind zu Frau Meier.

„Stell dir vor! Sie drucken meinen Text! Ich krieg ein Exemplar mit meinem Namen hinten drin!“

Frau Meier nahm sie in den Arm, stärker als je zuvor.
„Dann bist du jetzt nicht nur Pflegerin – sondern auch Schriftstellerin.“

Paula strahlte.
„Wenn ich mal groß bin, schreibe ich ein Buch über dich. Und Lilly. Vielleicht wird’s ein Bestseller.“

Frau Meier lächelte müde.
„Dann bitte mit ehrlichem Ende.“


Ein paar Tage später kam der Anruf.

Die Lungenwerte waren schlecht. Die Schatten hatten sich verändert.
Die Ärztin sagte: „Wir können behandeln. Aber nicht heilen.“

Frau Meier hörte still zu.
Dann sagte sie: „Nein Chemo. Keine Schläuche. Nur Würde.“

Sie legte auf.
Dann ging sie hinaus auf die Bank. Lilly sprang mühsam zu ihr, legte sich neben sie.
Paula, die aus dem Fenster zugesehen hatte, kam schweigend hinzu.

Sie saßen zu dritt in der letzten Abendsonne.
Und sprachen kein Wort.
Weil Worte manchmal zu viel und zu wenig zugleich sind.


Ab diesem Tag veränderte sich die Zeit.
Sie wurde wertvoller.

Jeder Morgen begann mit Tee, Brot und einem langen Blick aus dem Fenster.
Jeder Spaziergang mit Lilly war nicht nur Bewegung, sondern ein kleines Wunder.
Und jeden Abend las Paula Frau Meier aus einem alten Kinderbuch vor, das ihre Oma einst besessen hatte. Die Seiten waren brüchig, aber die Geschichten lebendig.

Frau Meier sagte eines Abends:
„Manchmal glaub ich, Lilly ist so gesund geworden, weil sie meine Zeit nehmen sollte. Damit ich deine noch sehe.“

Paula flüsterte:
„Dann bleib bitte noch. Nur ein bisschen.“


Eines Morgens, Mitte Mai, schlief Lilly ungewöhnlich lange.

Sie hatte gefressen, war aufgestanden, hatte sogar gespielt. Aber dann – tiefer Schlaf.
Paula wurde nervös.
Frau Meier blieb ruhig.

„Sie träumt“, sagte sie. „Vielleicht von dem Tag im Schnee.“

Dann, leise:
„Ich auch.“


Am nächsten Tag stand Paula früh auf.
Sie schnitt frisches Gras, bereitete Futter vor, prüfte die Medikamentenliste.
Als sie in die Küche kam, war der Platz am Tisch leer.

Frau Meier war nicht aufgestanden.

Lilly lag still vor der Schlafzimmertür.


Und plötzlich war das Haus stiller, als Paula es je erlebt hatte – selbst mit Lilly an ihrer Seite.

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