Lillys letzter Schnee | Ein Mädchen, eine Hündin, ein stiller Abschied: Wie ein Winter ein Leben heilte.

🔹 Teil 6 – Lillys letzter Schnee

Paula stand lange vor der geschlossenen Tür.
Sie wagte es nicht, zu klopfen.
Etwas in der Stille dahinter war so endgültig, dass selbst der Morgenwind innehielt.

Lilly saß reglos davor, das gesunde Bein leicht angezogen, die Ohren nach hinten gelegt. Kein Bellen, kein Winseln – nur ein stilles Warten, das alles sagte.

Schließlich griff Paula zum Türgriff. Ihre Finger zitterten.

Drinnen war es still.
Frau Meier lag in ihrem Bett, die Decke ordentlich bis unter das Kinn gezogen. Ihr Gesicht war entspannt, beinahe friedlich.
Auf dem Nachttisch lag ein zerlesenes Buch, ein Taschentuch und – gefaltet – ein Briefumschlag mit Paulas Namen.

Paula trat langsam näher.
Sie wusste es. Noch bevor sie Lillys Kopf hörte, der sich schwer neben das Bett legte.
Noch bevor sie sich hinunterbeugte und in Frau Meiers unbewegtes Gesicht sah.

Gertrud Meier war gegangen.


Es dauerte eine Stunde, bis Paula den Mut fand, ihre Mutter anzurufen.
Eine weitere, bis Dr. Seifert kam, den Tod feststellte und sich still neben Paula setzte.

„Es war friedlich“, sagte er. „Herzstillstand. Sie hatte es gespürt.“

Er fand keine Medikamente, keinen Notizblock. Nur den Zettel auf dem Küchenschrank:
„Öffne die Keksdose.“


Paula tat es erst am Abend.
Die Sonne war längst hinter den Apfelbaum gefallen, und Lilly schlief mit dem Kopf auf Paulas Fuß.

In der Dose war ein Brief.
Lang, in blauer Tinte.

Liebes Mädchen,

wenn du das liest, bin ich wahrscheinlich schon woanders. Vielleicht auf einer anderen Linie. Vielleicht einfach ein Stück weiter vorne im Fahrplan. Aber du bist stark, Paula. Du bist Herz und Mut und Zukunft in einem kleinen Körper mit zu großen Stiefeln.

Ich habe dich beobachtet. Nicht heimlich. Nur achtsam. Wie du Lilly gehalten hast, als sie kaum noch Kraft hatte. Wie du mir zugehört hast, ohne zu urteilen. Wie du den Mut hattest, Fragen zu stellen, die Erwachsene fürchten.

Ich habe keine Kinder hinterlassen. Kein Testament, kein Vermögen. Aber ich lasse dir dieses Haus. Und Lilly. Die beiden gehören jetzt dir – so wie du uns gehört hast.

Vielleicht willst du später einmal wegziehen. Studieren. Die Welt sehen. Dann tu das. Aber vergiss nicht: Zuhause ist nicht, wo du bleibst. Sondern wo du geliebt hast.

Fahr weiter, Paula. Du kennst den Weg.

In tiefer Dankbarkeit,
Deine Frau Meier


Paula las den Brief zweimal. Dann weinte sie.
Nicht laut. Nicht wütend. Sondern wie jemand, der einen leisen Motor hört, der nicht mehr anspringt.

Sie schlief auf dem Sofa ein, Lilly neben ihr, den Kopf auf ihrem Schoß, das kaputte Bein unter sich eingeklappt.


In den folgenden Tagen war das Haus voller Menschen.

Nachbarn brachten Blumen, Kuchen, Worte, die nichts ändern konnten.
Der Pfarrer kam, saß kurz mit Paula in der Küche, sagte dann:
„Sie hat viel Gutes getan. Ohne großes Gerede. Das ist selten.“

Die Beerdigung war schlicht.
Ein schlichter Sarg. Ein Strauß Krokusse.
Und Lilly, die stumm neben dem Grab saß, als hätte sie es geahnt.

Paula hielt die Abschiedsrede.
Kurz. Zitternd.

„Sie war wie ein alter Bus. Klapprig, laut, aber sie kam immer an. Und manchmal – hat sie uns mitgenommen, auch wenn wir nicht auf dem Plan standen.“


Nach der Beerdigung kehrten die Menschen in ihr Leben zurück.
Nur Paula blieb. Mit Lilly. Und dem Haus.

Sie wusste nicht, was nun geschehen sollte.
Ihre Mutter bot an, dass sie wieder einziehen könne.
Paula sagte nur: „Noch nicht. Ich will … dass sie nicht sofort verschwindet.“

Sie begann, das Haus sauber zu halten.
Zimmer für Zimmer, Staub für Staub.
Sie schrieb jeden Tag in ihr Notizbuch. Nicht viel. Manchmal nur einen Satz.

„Heute war der Wind warm, wie ihr Tee.“
„Lilly schläft wieder durch.“
„Ich habe den Garten umgegraben.“


Dr. Seifert kam einmal pro Woche.
Nicht nur wegen Lilly – sondern weil er wusste, dass Paula noch jemanden brauchte.

Eines Tages brachte er eine Mappe mit.

„Frau Meier hat das in der Praxis hinterlegt. Sie wollte, dass du es bekommst.“

Darin: Ein Notarvertrag.
Das Haus war offiziell auf Paula überschrieben – mit der Auflage, dass sie Lilly niemals abgeben würde, solange sie lebte.
Und ein kleiner Umschlag mit gespartem Bargeld. Nicht viel. Aber genug für Futter, Tierarzt, und vielleicht ein Fahrrad.

Paula hielt die Mappe fest.
„Sie hat an alles gedacht.“

Dr. Seifert nickte.
„Bis zuletzt.“


Im Juni, zwei Wochen nach Paulas zwölftem Geburtstag, geschah etwas, das sie lange nicht vergaß.

Ein kleiner Junge, etwa fünf Jahre alt, stand plötzlich am Gartentor.
Sein T-Shirt war zu groß, die Knie aufgeschlagen, die Nase lief.

„Ist das der Hund aus dem Buch?“, fragte er.

Paula war überrascht.
„Was für ein Buch?“

Er hielt ein Kinderbuch hoch. Darauf: Ein gezeichneter Hund mit schiefem Bein und goldenen Augen.

„Mama hat’s mir vorgelesen. Da ist ein Mädchen, das einen Hund rettet. Und dann retten sie beide ein altes Herz.“

Paula lächelte.
„Willst du Lilly kennenlernen?“

Der Junge nickte stumm.
Lilly humpelte vorsichtig zur Tür, blieb stehen, schnupperte.

Dann leckte sie dem Jungen über die Finger.
Und etwas in Paulas Brust wurde still.
Nicht leer. Nur ruhig.


Am Abend, als die Sonne die Fenster vergoldete, saß Paula mit Lilly auf der Bank.
Der kleine Junge war längst gegangen.
Der Wind roch nach Heu und Erinnerung.

Sie flüsterte:
„Du hast ihr Herz gerettet. Und meins.“

Lilly hob den Kopf, sah sie an.
So wie an jenem ersten Tag im Schnee.
Und Paula wusste: Die Stille war nicht das Ende.


Manchmal beginnt ein neues Leben dort, wo ein anderes aufgehört hat – leise, mit einem Blick.

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