🔹 Teil 7 – Lillys letzter Schnee
Der Sommer kam langsam.
Nicht wie ein Feuer, das alles überstrahlt – sondern wie ein warmer Atem, der durch das Dorf zog und die Schatten an den Hauswänden tanzen ließ.
Paula richtete sich ein. Nicht als Erwachsene, nicht als Kind – sondern irgendwo dazwischen.
Sie war nun die Hüterin eines Hauses, das Geschichten kannte.
Und sie war die Gefährtin einer Hündin, die humpelte, aber frei war.
Lilly schlief oft in der Sonne, den Kopf auf einer alten Fußmatte, die einst vor Frau Meiers Bus gelegen hatte.
Wenn Paula vorbeiging, hob sie den Kopf. Nicht aus Pflicht, sondern aus Verbundenheit.
Ein stilles Einverständnis: Ich bin da. Du auch.
Das Leben sortierte sich neu.
Paula schrieb weiter in ihr Notizbuch. Sie nannte es nun: „Lillys Jahr“.
Sie dokumentierte jedes neue Geräusch, das Lilly entlockte – das leise Grunzen beim Schlafen, das tiefe Atmen beim Dösen, das freudige Bellen, wenn sie einen Schmetterling jagte, obwohl sie ihn nie erwischte.
Die Nachbarn halfen.
Herr Kummer brachte zweimal die Woche Gemüse.
Die Bäckerin ließ Paula sonntags Brötchen umsonst holen – „für Frau Meier“, sagte sie, auch wenn sie längst wusste, dass Frau Meier nicht mehr kam.
Und irgendwann sprach niemand mehr von Trauer.
Sondern nur noch von Geschichten.
Im Juli kam ein Brief von der Schule.
Man bot Paula an, ein Gymnasium in Biberach zu besuchen. Talentförderung, hieß es. Sie habe viel Potenzial.
Paulas Mutter war begeistert.
„Das ist deine Chance. Neue Freunde, besserer Unterricht, vielleicht ein Stipendium!“
Doch Paula zögerte.
Sie saß lange im Garten, neben Lilly, den Brief auf den Knien.
Sie wusste: In Biberach gäbe es keine alten Gärten, keine Bank mit verblasstem Lack, kein schiefes Hundebett neben der Küche.
Am Abend sagte sie leise zu ihrer Mutter:
„Ich geh nach Biberach. Aber Lilly kommt mit. Und ich fahr jeden Tag zurück.“
Die Mutter sah sie nachdenklich an.
Dann sagte sie nur:
„Du bist mehr wie Frau Meier, als dir bewusst ist.“
Der erste Schultag war hart.
Neue Gesichter, neue Bücher, neue Regeln.
Aber als Paula am Nachmittag nach Hause kam und Lilly auf drei Beinen zum Gartentor hinkte, fiel alle Anspannung von ihr ab.
„Sie haben keine Ahnung, was wichtig ist“, sagte sie zu Lilly.
„Aber du schon.“
Im August besuchte Paula das Grab von Frau Meier zum ersten Mal allein.
Sie brachte keine Blumen mit – nur das Notizbuch.
Setzte sich ins Gras, las leise die letzten Seiten vor.
Über die Kinder, die wieder kamen, um Lilly zu sehen.
Über den Mann, der fragte, ob er mit seiner eigenen alten Hündin auf dem Grundstück eine Runde gehen dürfe.
Über das Mädchen, das nicht mehr weinte, wenn der Bus vorbeifuhr.
Sie las die letzte Zeile:
„Vielleicht war sie nicht nur Busfahrerin. Vielleicht war sie Wegweiserin.“
Dann legte sie einen Stein aufs Grab.
Und ging.
An einem heißen Nachmittag, als Paula in der Küche Wäsche faltete, hörte sie plötzlich ein dumpfes Poltern.
Sie rannte hinaus.
Lilly lag auf der Seite, neben dem Apfelbaum. Das gesunde Bein zuckte. Das verletzte war ausgestreckt.
„Lilly!“, rief Paula, kniete sich zu ihr.
Der Atem der Hündin war flach.
Sie öffnete die Augen, aber sie wirkten trüb.
Paula hob sie vorsichtig auf, trug sie ins Haus, rief sofort Dr. Seifert an.
„Komm bitte. Schnell.“
Dr. Seifert kam innerhalb von zwanzig Minuten.
Er untersuchte Lilly in der Küche, während Paula daneben saß, die Hände ineinander verschränkt.
Nach einer Weile sagte er ruhig:
„Ein Krampfanfall. Wahrscheinlich ein neurologisches Problem. Kann altersbedingt sein. Wir sollten Blut nehmen und ein Beruhigungsmittel geben.“
Paula nickte stumm.
Als er Lilly die Injektion verabreichte, flüsterte sie ihr ins Ohr:
„Du gehst nicht. Noch nicht.“
Lilly sah sie an – müde, aber da.
Die Nacht war still.
Paula schlief neben Lilly auf dem Boden.
Immer wieder tastete sie nach ihrem Atem, hörte das gleichmäßige Heben und Senken der Brust.
Gegen Morgen wachte sie auf.
Lilly lag mit dem Kopf auf ihrem Arm.
Und schlief ruhig.
Paula flüsterte:
„Ich warte. Egal wie lange.“
Am nächsten Tag brachte Dr. Seifert die Blutergebnisse.
„Die Nieren arbeiten langsamer. Die Leberwerte sind nicht gut. Ich empfehle eine spezielle Diät, Infusionen – vielleicht auch unterstützende Medikamente.“
Paula sah ihn an.
„Und wenn wir das alles machen – wie lange hat sie dann?“
Dr. Seifert schwieg einen Moment.
Dann sagte er ehrlich:
„Vielleicht Wochen. Vielleicht Monate. Manchmal überraschen sie uns.“
Paula nickte.
„Dann tun wir alles. Und ich will keine Schmerzen für sie.“
„Du wirst es merken, wenn es Zeit ist“, sagte er.
„Sie wird’s dir zeigen.“
Die nächsten Wochen wurden anders.
Lilly bewegte sich langsamer, fraß weniger, aber sie war da.
Sie genoss es, wenn Paula ihr das Ohr kraulte.
Sie döste auf der Bank, ließ sich die Sonne auf den Bauch scheinen.
Paula richtete eine kleine Krankenstation im Wohnzimmer ein.
Mit Decken, Wärmflasche, Wasser in Greifweite.
Sie las ihr abends vor. Schrieb neue Geschichten.
Und einmal, ganz leise, sagte sie:
„Du hast mein Leben geändert. Vielleicht ohne es zu merken.“
Der Sommer neigte sich dem Ende.
Die ersten Blätter fielen. Die Luft roch nach Erde und Abschied.
Aber Paula war nicht mehr nur Kind.
Sie war Wächterin. Freundin. Tochter in einem anderen Sinn.
Und Lilly – sie war müde.
Aber sie blieb.
Sie wusste: Der Schnee würde wiederkommen – doch diesmal war Paula bereit, ihn zu empfangen.