🔹 Teil 8 – Lillys letzter Schnee
Der Herbst kam mit leisen Schritten.
Kein Donner, kein Sturm – nur goldene Blätter, die in Bögen zu Boden sanken, als wollten sie nicht stören.
Paula hatte sich an die neue Routine gewöhnt.
Jeden Morgen stand sie früh auf, füllte frisches Wasser in Lillys Schale, wärmte ihre Decke auf dem alten Kachelofen und kontrollierte die Medikamente, die Dr. Seifert zusammengestellt hatte: Leberstärkung, Schmerzmittel in winzigen Dosen, ein pflanzliches Tonikum gegen Müdigkeit.
Lilly nahm alles still hin.
Nicht ergeben, sondern wissend.
Wie jemand, der nichts mehr beweisen muss – nur noch anwesend sein möchte.
Der Schulweg nach Biberach war lang, aber Paula nutzte die Zeit.
Sie schrieb kleine Briefe an Lilly – jeden Tag einen.
Sie steckte sie nachmittags in eine leere Dose auf der Fensterbank neben Lillys Schlafplatz.
„Heute hat es nach Regen gerochen, aber ich hab trotzdem gelächelt, weil du gestern geträumt hast.“
„Ich hab einen Baum gemalt. Er war alt, wie du. Und voller Farben.“
„Wenn du müde bist, darfst du das sagen. Ich hör dir zu.“
Lilly lief nicht mehr weit.
Zehn Meter vielleicht, bis zur Bank unter dem Apfelbaum.
Paula trug sie manchmal dorthin – langsam, vorsichtig, mit beiden Armen unter dem Bauch, so wie Frau Meier es einst getan hatte.
Einmal blieb eine ältere Frau mit Einkaufstasche stehen.
„Das ist sie, nicht wahr? Die aus dem Artikel.“
Paula nickte.
Die Frau legte eine kleine Figur auf den Rand der Bank – ein geschnitzter Holzengel.
„Für Lilly. Und für das Mädchen, das blieb.“
Paula sprach abends oft mit dem Bild von Frau Meier, das auf dem kleinen Schränkchen im Flur stand.
„Sie hat heute wieder gefressen. Wenig, aber immerhin.“
Oder:
„Ich glaub, sie hört schon ein bisschen schlechter. Ich rede lauter, aber sie sieht’s an meinem Gesicht.“
Und manchmal:
„Ich vermisse dich. Aber du bist überall.“
Im Oktober wurde Lilly schwächer.
Dr. Seifert kam alle drei Tage.
Er lobte Paula, blieb manchmal länger, las einen ihrer Briefe.
Er sprach nie von Abschied – nur von Fürsorge.
„Sie ist ruhig“, sagte er eines Tages. „Sie hat keine Angst. Nur wenig Kraft.“
Paula fragte leise:
„Woran merke ich, dass es … Zeit ist?“
Er sah sie lange an.
„Wenn sie aufhört, mit den Augen zu suchen. Wenn sie nicht mehr wissen will, wo du bist. Dann lässt sie los.“
Einmal versuchte Paula, sich vorzustellen, wie es ohne Lilly wäre.
Sie konnte es nicht.
Der Gedanke war wie ein Loch – nicht leer, sondern tief.
Ein Raum ohne Klang.
Ohne den Atem neben ihrem Kissen.
Ohne die kleinen Krallen auf den Fliesen.
Aber sie wusste: Es war ihre Aufgabe, zu begleiten.
So, wie Frau Meier sie begleitet hatte.
Und Begleitung hieß manchmal: Loslassen.
Ende Oktober kam der erste Frost.
Paula legte eine zweite Decke in Lillys Korb, wärmte das Wasser mit einem Schuss Fencheltee.
Lilly hob kaum noch den Kopf, aber wenn Paula sich näherte, zuckte ihr Schwanz leicht.
„Ich bin da“, flüsterte Paula.
Manchmal saßen sie nachts gemeinsam auf der Bank. Paula im Mantel, Lilly eingewickelt in Decken.
Der Himmel war dann klar, die Sterne nah.
Einmal sagte Paula:
„Wenn du gehst … dann geh leise. Ich werde dich trotzdem hören.“
Am 1. November, früh am Morgen, wachte Paula auf, weil sie nichts hörte.
Kein Atmen, kein Scharren.
Sie sprang auf, rannte ins Wohnzimmer.
Lilly lag da.
Still. Warm.
Aber ihr Atem war flach.
Paula kniete sich zu ihr, legte ihre Stirn an den Kopf der Hündin.
„Warte. Noch nicht. Ich muss was holen.“
Sie lief in die Küche, holte eine der kleinen Dosen mit Briefen.
Zog einen heraus.
Sie las:
„Du bist mein erster Schnee. Und ich will, dass du auch mein letzter bist.“
Sie legte den Zettel neben Lillys Pfote.
Dann streichelte sie sie – lang, mit beiden Händen.
„Wenn du gehst … dann weiß ich den Weg. Du hast ihn mir gezeigt.“
Lilly öffnete noch einmal die Augen.
Bernstein. Glanz.
Dann schloss sie sie wieder.
Ihr letzter Atem war kaum hörbar.
Aber er war da.
Paula weinte nicht sofort.
Sie saß lange da, hielt Lillys Kopf, summte ein Lied, das sie mit Frau Meier einst gesungen hatte.
Dann rief sie Dr. Seifert.
Er kam gegen Mittag, prüfte Lillys Körper, sagte leise:
„Sie ist gegangen, wie sie gelebt hat. Leise. Wach. Würdevoll.“
Paula nickte.
„Danke.“
Er fragte: „Möchtest du sie beerdigen?“
Paula antwortete:
„Ja. Neben dem Apfelbaum. Da, wo sie geschlafen hat. Wo sie war, als alles anfing.“
Der ganze Ort half.
Herr Kummer brachte Schaufel und Blumen.
Zwei Kinder malten ein Bild von Paula und Lilly.
Ein junger Mann schnitzte ein Holzschild: „Lilly – sie wartete, sie blieb, sie heilte.“
Paula begrub Lilly am Abend.
Mit der Decke, dem Stoffhasen, und dem letzten Brief.
Und dann setzte sie sich auf die Bank.
Allein.
Oder auch nicht.
In dieser Nacht fiel der erste Schnee.
Wie im Jahr zuvor.
Leise. Friedlich.
Und Paula saß noch immer draußen, das Gesicht in den Himmel gerichtet.
Sie streckte die Hand aus, fing eine Flocke.
„Willkommen“, flüsterte sie.
„Du bist wieder da.“
Manchmal kehrt der Schnee zurück – nicht, um zu kühlen, sondern um zu trösten.