🔹 Teil 10 – Lillys letzter Schnee
Der zweite Frühling nach Lillys Tod begann mit einem Duft.
Nicht nach Erde oder Gras, sondern nach warmem Fell.
Paula stand im Garten, die Hände voller Blumenerde, als ein Windstoß kam, sie streifte – und sie plötzlich lächeln musste.
Sie wusste nicht warum.
Aber sie wusste, was es war.
Paula war nun dreizehn.
Alt genug, um Dinge zu verstehen, die Erwachsene gern versteckten.
Aber jung genug, um noch zu glauben, dass Liebe bleibt – selbst wenn Füße keine Spuren mehr hinterlassen.
Das Haus war ihr geblieben.
Die Menschen auch.
Herr Kummer kam noch immer mit Gemüse.
Die Kinder von damals, die Lilly gestreichelt hatten, schauten regelmäßig vorbei.
Und Dr. Seifert war längst mehr als ein Tierarzt – er war Teil der Geschichte.
Der Garten war anders geworden.
Lebendiger.
Jede Pflanze erzählte etwas:
Der Apfelbaum, unter dem Lilly lag.
Die Krokusse, die Paula gepflanzt hatte.
Ein kleiner Lavendelbusch, den eine Nachbarin zum Gedenken geschenkt hatte.
Paula nannte ihn „Lillys Platz“.
Dort saß sie oft. Und dachte.
Das Buch hatte Kreise gezogen.
Nicht groß. Nicht laut. Aber weit.
Kinder schrieben Briefe, malten Bilder.
Manche sendeten Fotos ihrer Hunde mit Notizen wie: „Wir haben sie nach Lilly benannt.“
Andere schickten Erinnerungen an Tiere, die längst gegangen waren.
Paula sammelte alles in einem großen Ordner mit dem Titel:
„Was von ihr blieb“
Einmal sagte sie zu ihrer Mutter:
„Vielleicht ist das das Wichtigste, was wir hinterlassen – Geschichten, die jemand weiterträgt.“
Die Mutter nickte nur.
Dann nahm sie Paulas Hand.
Und sagte:
„Und Herzen, die noch fühlen, wenn die Geschichte zu Ende ist.“
Im Sommer wurde Paula zum ersten Mal für eine Lesung eingeladen.
Eine kleine Stadtbibliothek, zwanzig Stühle, ein Mikrofon, das kratzte.
Aber der Raum war voll.
Und still.
Paula las nicht alles.
Nur den Anfang – den ersten Schnee, das erste Winseln im Graben.
Dann die Stelle, an der Frau Meier sagt:
„Wenn wir ihr helfen, dann gehört sie zu uns.“
Und zuletzt:
„Du bist mein erster Schnee. Und ich will, dass du auch mein letzter bist.“
Danach war es für einen Moment stiller als Schnee.
Dann begannen die Menschen zu klatschen.
Langsam. Aufrichtig.
Ein Mädchen kam nach der Lesung auf Paula zu.
Etwa acht Jahre alt, mit einem abgewetzten Rucksack.
„Ich hab auch einen Hund. Er ist alt. Ich hab Angst, wenn er mal nicht mehr ist.“
Paula kniete sich hin.
Schaute sie an.
„Weißt du, was das Letzte ist, was Lilly mir beigebracht hat?“
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
„Dass Traurigkeit nicht das Gegenteil von Liebe ist. Sondern ein Teil davon.“
Das Mädchen nickte.
Dann sagte sie:
„Dann darf ich traurig sein. Aber trotzdem fröhlich.“
Paula lächelte.
„Ganz genau.“
Zu Hause erwartete sie ein Paket.
Ein Geschenk des Verlags – die zweite Auflage.
Das Cover war leicht verändert:
Die Bank im Schnee, Paula und Lilly als Silhouetten, ein Stern über ihnen.
Auf der Rückseite stand ein Zitat:
„Wer einmal gewartet hat, der weiß: Manchmal kommt Liebe auf leisen Pfoten.“
Paula stellte das Buch neben das Foto von Frau Meier.
Und flüsterte:
„Wir haben’s geschafft.“
Im Oktober regnete es tagelang.
Die Welt war grau. Die Farben verwaschen.
Aber Paula mochte solche Tage.
Man durfte langsamer sein. Man durfte erinnern.
Eines Abends, als der Regen gegen die Scheiben trommelte, öffnete sie Lillys alte Blechdose.
Darin: der Stoffhase, die letzten Tabletten, ein Stück Decke, das nach nichts mehr roch – und doch alles enthielt.
Paula nahm das Notizbuch „Lillys Jahr“ heraus.
Sie blätterte durch, las sich durch jeden Eintrag.
Dann schrieb sie die letzte Zeile hinein:
„Sie war mein Anfang. Und ich wurde ihr Zuhause.“
Im November, als der Wind die letzten Blätter vom Baum riss, geschah etwas Unerwartetes.
Paula hörte draußen ein Jaulen.
Nicht schmerzhaft – sondern fordernd.
Sie lief hinaus, barfuß, die Jacke halb offen.
Am Gartenzaun stand ein Hund.
Dünn, nass, mit einem zerzausten Ohr und großen Augen.
Er sah nicht aus wie Lilly.
Nicht im Geringsten.
Aber er zitterte. Und blieb.
Paula kniete sich hin.
„Hey du … ich hab dich nicht erwartet.“
Der Hund trat einen Schritt näher.
Dann noch einen.
Und leckte ihre Hand.
Paula brachte ihn ins Haus, trocknete ihn ab.
Sie gab ihm Wasser, ein altes Kissen, auf dem Lilly früher gelegen hatte.
Er rollte sich zusammen, seufzte tief – und schlief ein.
Sie rief keinen Tierarzt, keinen Nachbarn.
Nicht sofort.
Sie wollte erst sehen, ob er blieb.
Am nächsten Morgen war er noch da.
Wach. Ruhig.
Und hungrig.
Sie nannte ihn „Flocke“.
Nicht, weil er weiß war – sondern weil er kam, als der erste Schnee angekündigt war.
Ein Zeichen?
Vielleicht.
Aber Paula brauchte keine Zeichen mehr.
Sie glaubte an Begegnungen.
Und daran, dass man nur einmal im Leben lernen muss, was es heißt zu bleiben.
Flocke war jünger, stürmischer, ungestüm.
Er sprang aufs Sofa, fraß Socken, bellte den Postboten an.
Ganz anders als Lilly.
Und doch: In manchen Momenten, wenn er still neben Paula lag, die Schnauze in ihre Hand geschoben, dann fühlte es sich vertraut an.
Nicht gleich. Aber richtig.
Als der erste Schnee fiel, saß Paula mit Flocke auf der Bank.
Sie hatte Tee gemacht, eine Decke um die Beine gelegt.
Sie sah zum Himmel, dann zum Grab unter dem Apfelbaum.
Die Krokusse waren längst verschwunden. Aber der Lavendel hielt stand.
Paula flüsterte:
„Es hat wieder geschneit.“
Flocke hob den Kopf.
Sah sie an.
Und Paula sagte:
„Ja. Ich weiß. Du bist nicht Lilly.
Aber ich bin noch ich. Und das reicht.“
Schlussabsatz:
Der Schnee fiel weiter.
Leise, unaufdringlich, wie ein Versprechen ohne Worte.
Und während Flocke sich an sie schmiegte, wusste Paula:
Manche Geschichten enden nicht.
Sie werden nur leiser – und begleiten uns.
Ein Leben lang.
Ende von Lillys letzter Schnee 🤍