🐾 Teil 4: Briefe ohne Absender
Der Zettel ließ sie nicht los.
Lotta faltete ihn immer wieder auf und wieder zusammen, als könnte zwischen den Zeilen mehr stehen als nur die wenigen Worte. Die Handschrift war zittrig, alt vielleicht, aber nicht ungelenk. Jemand hatte sich Mühe gegeben, die Buchstaben klar zu setzen, so als wäre jeder Buchstabe ein Stück Erinnerung, das nicht verrutschen durfte.
„Haben Sie ihn gefunden? Ich hoffe, er hat Sie gefunden.“
Sie las es leise vor sich hin, während Emil vor dem Ofen lag und mit halboffenen Augen in den Nachmittag dämmerte. Es war einer dieser Tage, an denen selbst die Uhr langsamer tickte. Draußen graues Licht, feuchte Kälte, die durch die Ritzen der Fenster sickerte. Ein Tag wie geschaffen für alte Geschichten.
Sie nahm den Zettel mit an den Küchentisch, holte eine ihrer kleinen Keksdosen hervor und legte ihn hinein. Neben einen alten Stadtplan von Leipzig, eine Busfahrkarte von 1984 und ein zerkratztes Foto von sich und ihrem Mann auf einem Ruderboot.
Dinge, die man nicht mehr braucht, aber nicht loslassen kann.
Am Abend, kurz vor fünf, stand sie wieder an der Haltestelle. Emil saß neben ihr, wie immer. Doch heute war es anders. Lotta fühlte es.
Sie sah sich öfter um, beobachtete die Leute genauer. Ein Mann mit grauer Mütze, der dreimal vorbeiging. Eine junge Frau mit Kinderwagen, die plötzlich stehen blieb und zu ihnen herüberblickte.
Nichts Auffälliges. Und doch spürte sie Blicke. Fragen.
Emil hob plötzlich den Kopf, schnupperte in die Richtung der Gleise, stand auf. Die Ohren waren leicht angelegt, nicht ängstlich, aber aufmerksam.
„Was ist?“, fragte Lotta.
Er ging drei Schritte vor, blieb dann stehen und sah sie an.
„Willst du mir was zeigen?“
Sie erhob sich, etwas mühsam, und folgte ihm. Er lief nicht schnell, immer nur ein Stück, dann wartete er. Es ging nicht weit, nur ein paar hundert Meter den Bürgersteig entlang, vorbei an alten Mietshäusern und einem verwaisten Zeitungskiosk. Schließlich bog er in einen kleinen Hinterhof ein, den Lotta noch nie bewusst betreten hatte.
Dort, unter einem rostigen Fahrradständer, lag ein zweiter Briefumschlag.
Diesmal gelb, leicht angefeuchtet vom Nebel.
Sie bückte sich, hob ihn auf, zögerte.
Emil setzte sich.
Lotta öffnete den Umschlag mit zitternden Fingern.
Innen: wieder ein handgeschriebener Zettel.
„Er hat immer bei der Haltestelle gewartet, wenn ich zu müde war. Ich hoffe, er wartet jetzt bei Ihnen.“
Keine Unterschrift. Kein Name. Kein Hinweis.
Nur wieder diese stillen Worte. Wie aus einer Zeit gefallen.
Zuhause legte sie auch diesen Zettel in die Keksdose. Es war kein Spiel mehr, kein Zufall. Jemand wusste von Emil. Jemand beobachtete sie.
Aber es machte ihr keine Angst. Es war kein kalter Blick, kein drohendes Schweigen. Es war eher wie ein stiller Gruß von einem Unbekannten, der dieselbe Sprache sprach wie sie. Die Sprache der verlorenen Dinge, der Routinen, die trösten.
Sie schrieb eine Antwort.
Kurz. Unsicher.
„Ja. Er wartet noch. Und ich auch.“
Sie steckte den Zettel in einen eigenen Umschlag, schrieb nichts außen drauf, ging am nächsten Morgen zurück in den Hinterhof und legte ihn an denselben Platz.
Als sie zurückkam, war Emil nicht vor der Tür.
Für einen Moment stieg Panik in ihr auf. Sie rief seinen Namen, suchte mit den Augen die Straße ab.
Dann sah sie ihn.
Er saß ein paar Häuser weiter vor einer Haustür, ganz still, als würde er jemanden erwarten.
Als er sie kommen sah, stand er auf, kam zurück. Keine Eile, keine Freude nur dieses stille Wiedersehen, das tiefer ging als jedes Schwanzwedeln.
In den nächsten Tagen kam kein neuer Zettel. Nur der Alltag, der sich in Lottas Leben gelegt hatte wie eine zweite Haut.
Sie ging mit Emil morgens eine kleine Runde durch den Park, sprach mit der Bäckerin, die nun immer ein altes Brötchen extra zurücklegte. Nachmittags fuhr sie manchmal mit dem Bus ein paar Stationen, ohne Ziel, nur um zu spüren, wie sich Bewegung anfühlt. Und abends saß sie mit Emil an der Haltestelle.
Dort hörte sie zu. Nicht den Menschen sondern sich selbst. Den Gedanken, die man sonst zu überhören lernt. Der Stille, in der sich oft mehr verbirgt als im Lärm.
Dann, an einem Dienstagabend, kam der Bus.
Nicht einer der neuen, glatten. Sondern ein alter Ersatzbus, verbeult, gelblich, mit ruckelndem Motor. Er hielt, obwohl niemand winkte.
Die Tür öffnete sich.
Der Fahrer, ein Mann mit schütterem Haar und einem karierten Hemd, lehnte sich hinaus.
„Fahren Sie mit?“
Lotta schüttelte den Kopf.
„Nein, danke.“
Der Mann nickte langsam. Dann sah er auf Emil.
„Den kenn ich.“
„Tatsächlich?“
„Der war mal Stammgast auf der Linie 70. Hat immer gewartet, bis ein bestimmter Mann ausstieg. Wenn der nicht kam, ist der Hund wieder gegangen.“
„Und wenn der Mann kam?“
„Dann hat der Hund gewedelt wie verrückt, ist ihm nach Hause gefolgt. Ich hab das jahrelang gesehen.“
Lotta schwieg.
„Ich dacht, der Hund wär weg“, sagte der Fahrer noch. „Aber vielleicht war er nie ganz fort.“
Dann schloss er die Tür und fuhr weiter.
Sie sah ihm lange nach.
Später, daheim, streichelte sie Emil länger als sonst. Sein Fell war inzwischen fast seidig, die Augen weich. Er hatte etwas gefunden, vielleicht sogar zurückbekommen.
Sie holte die Keksdose, legte die beiden Zettel nebeneinander, daneben die kleine Fotografie vom Ruderboot.
„Weißt du“, sagte sie, „es gibt Briefe, die man nie abschickt. Und trotzdem kommen sie irgendwann an.“
Emil hob den Kopf, legte ihn dann wieder auf ihre Knie.
Am nächsten Morgen lag kein Brief mehr vor der Tür aber etwas viel Unheimlicheres: eine alte Busfahrkarte mit Blutstropfen am Rand.