🐾 Teil 5: Die Karte mit dem Tropfen
Lotta starrte auf die Busfahrkarte.
Sie lag halb unter der Fußmatte, vom Morgentau feucht, an einer Ecke leicht eingerissen. Und dort, wo das Datum einst aufgedruckt war, glänzte ein dunkler, getrockneter Fleck.
Sie zögerte, bevor sie sich bückte.
Ein Tropfen. Nicht größer als ein Stecknadelkopf. Aber rotbraun, und so eindeutig, dass sich in ihrem Inneren etwas zusammenzog.
Blut.
Emil stand ruhig hinter ihr, als wüsste er längst, was da lag. Er schnupperte kurz daran, ohne Regung. Dann drehte er sich um und setzte sich neben die Tür, als wolle er sagen: Lass uns erst frühstücken.
Lotta aber konnte sich nicht abwenden. Die Karte fühlte sich schwerer an als jedes Wort. Als hätte jemand ihr ein Stück Vergangenheit hingelegt, das nicht hätte zurückkommen dürfen.
Sie ging hinein, legte die Fahrkarte vorsichtig auf ein Stück Zeitung, setzte sich an den Küchentisch und starrte lange darauf. Der Druck war verblasst. „LVB Leipzig“, darüber das Datum: 12. Oktober 2014.
Vor genau elf Jahren.
Sie dachte nach. Was war damals gewesen?
Ihr Mann war schon im Heim. Lotta hatte damals noch gehofft, er könne wieder nach Hause kommen. Und sie war oft mit dem Bus gefahren. Jeden Tag fast, zur selben Uhrzeit. Sie hatte einen Schal getragen mit roten Fransen. Sie erinnerte sich genau, weil sie ihn einmal im Bus verloren hatte.
Und jetzt lag da diese Karte.
Mit Blut.
Gegen Mittag kam sie endlich in Bewegung. Zog sich den Mantel über, steckte die Karte in einen Briefumschlag, nahm Emil an die Leine zum ersten Mal und ging zur Polizeiwache in der Nähe des Eutritzscher Zentrums.
Die junge Frau am Empfang sah sie freundlich an.
„Was können wir für Sie tun?“
Lotta holte die Karte hervor, legte sie auf den Tresen.
„Ich habe das heute früh vor meiner Tür gefunden.“
Die Polizistin zog sich Handschuhe über, betrachtete das Stück Papier.
„Wo genau?“
„Kantstraße 19.“
Sie notierte etwas, nickte.
„Sie sagen, es war einfach da?“
„Ja. Und… es ist Blut drauf.“
Die Beamtin sah sie an, mit einem Blick, den Lotta kannte. Respektvoll, aber vorsichtig, wie bei alten Menschen, deren Worte man nicht gleich anzweifelt, aber auch nicht gleich ernst nimmt.
„Wir schauen uns das an, Frau Kramer. Darf ich fragen – haben Sie etwas gesehen? Oder Verdächtiges gehört?“
Lotta schüttelte den Kopf.
„Nur… Briefe. Und dieser Hund.“
Sie deutete auf Emil, der draußen vor der Glastür saß.
Die Polizistin notierte weiter.
„Wir melden uns. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind.“
Draußen setzte sie sich kurz auf eine Bank neben dem Eingang. Emil legte den Kopf auf ihren Schoß.
„Vielleicht halten die mich für verrückt“, sagte sie leise.
Emil antwortete nicht. Nur seine Wärme blieb.
Zuhause wirkte alles fremd. Die Keksdose mit den Briefen, das knisternde Geräusch des alten Radios, selbst der Tee schmeckte heute nach nichts.
Lotta ging unruhig durch die Zimmer, öffnete und schloss Schubladen, als suche sie etwas, ohne zu wissen, was.
Im Schlafzimmer stand noch immer der alte Schrank mit den Wintermänteln. Ganz hinten, unter einem Stapel Wolltücher, fand sie den Schal von damals.
Rot. Mit Fransen.
Und daran, an einem der losen Fäden, hing ein kleiner, rostiger Sicherheitsnadel-Anhänger.
Daran war sie oft hängengeblieben.
Sie hielt ihn in der Hand und erinnerte sich.
An einen Tag im Oktober, an einen Mann mit einem auffälligen Mantel, der ihr gegenübergesessen hatte. Er hatte sie angesehen, mit traurigen Augen. Emil war damals auch schon im Bus gewesen, zusammengekauert unter einem Sitz. Sie hatte ihn gestreichelt, heimlich, damit der Fahrer es nicht sah.
Der Mann hatte nichts gesagt.
Nur beim Aussteigen hatte er leise gemurmelt: „Er wartet.“
Und sie hatte nicht gefragt: „Wer?“
In der folgenden Nacht träumte sie von Treppen, die ins Nichts führten. Sie ging, immer weiter, bis sie stehen blieb und hörte, wie jemand hinter ihr sagte: „Ich bin nicht fort.“
Als sie erwachte, war das Radio angegangen. Nachrichten.
Eine kurze Meldung: In einem leerstehenden Gebäude nahe der alten Busendstation hatte man einen obdachlosen Mann mit einer Kopfverletzung gefunden. Keine Papiere, kein Name. Er wurde im Klinikum Nord versorgt.
Lotta setzte sich auf.
Das Gebäude war keine drei Straßen entfernt von der Haltestelle, an der sie jeden Abend mit Emil saß.
Sie kleidete sich an, nahm das alte Foto von sich und ihrem Mann, und verließ mit Emil das Haus.
Das Krankenhaus roch nach Desinfektionsmittel und Müdigkeit.
An der Pforte fragte sie zögernd: „Der Mann ohne Namen, den sie gestern eingeliefert haben… kann ich ihn sehen?“
Die Schwester schaute verwundert.
„Sind Sie Angehörige?“
„Vielleicht. Ich weiß es nicht.“
Die Schwester verschwand, kam nach kurzer Zeit zurück.
„Zimmer 312. Er ist wach. Aber… er spricht nicht.“
Lotta ging die Treppe hinauf, langsam. In der Tasche spürte sie das Foto, das sie mitgenommen hatte wie ein Schutz.
Im Zimmer lag ein Mann mit verbundenem Kopf, die Augen offen, aber leer. Er war mager, das Gesicht eingefallen, doch die Wangenknochen scharf, fast vertraut.
Lotta trat näher, blieb am Bett stehen.
Emil legte sich an die Tür, stumm.
Der Mann drehte langsam den Kopf, sah sie an. Ein Ausdruck blitzte auf. Kein Erkennen aber so etwas wie ein Aufatmen.
Lotta zog das Foto hervor, hielt es ihm hin.
„Kennen Sie das?“
Er blinzelte. Und dann ganz langsam – ein Nicken.
Sie hielt den Atem an.
Sie blieb eine Stunde. Sagte nicht viel. Beobachtete ihn. Er sprach nicht, bewegte kaum die Lippen. Aber er ließ ihre Hand nicht los, als sie sie ihm reichte.
Als sie ging, war sie sicher: Er war es nicht.
Und doch war er Teil der Geschichte.
Vielleicht ein Freund von Heinrich Friedrichs. Vielleicht jemand, der Emil kannte. Vielleicht sogar der Verfasser der Briefe.
Zuhause stellte sie die Keksdose auf den Küchentisch, nahm jeden Zettel einzeln heraus und las sie wieder. Wort für Wort. Als würde sich mit jedem Lesen ein Bild schärfen, das bislang verschwommen geblieben war.
Sie nahm ein neues Blatt, einen neuen Umschlag.
Und schrieb:
„Ich war bei ihm. Ich glaube, er erinnert sich. Aber nicht an mich. Wenn Sie das hier lesen – bitte sagen Sie mir, wer Sie sind.“
Am Abend ging sie wieder zum Hinterhof.
Und diesmal wartete Emil nicht.
Er lief voraus.
Hinter dem Fahrradständer lag kein Brief aber ein ganzer Stapel alter Fotografien, sorgfältig gebündelt mit einem roten Band.