🐾 Teil 6: Die Bilder im roten Band
Der Stapel lag da wie ein vergessenes Versprechen.
Lotta kniete sich vorsichtig hin. Das rote Band war ausgefranst, aber noch fest um die Ecken geschlungen. Die Fotografien darunter waren alt – manche vergilbt, andere eingerissen an den Kanten. Kein Name. Kein Umschlag. Kein Brief diesmal. Nur diese Bilder, sorgfältig gebündelt, als hätte jemand sie mit zitternden Händen zurückgelassen.
Emil schnüffelte kurz, setzte sich dann still neben sie.
Lotta nahm den Stapel an sich, stand langsam auf, spürte dabei das Gewicht, nicht der Fotos, sondern der Geschichten, die sie enthielten.
Sie ging wortlos nach Hause. Es war ein langer Weg, obwohl die Straße kurz war. Die Laternen flackerten leicht, ein paar Schneeflocken tanzten in der Luft. Die Stadt war stiller als sonst.
Daheim legte sie die Fotos auf den Küchentisch, band das rote Band vorsichtig ab und begann, sie Stück für Stück zu betrachten.
Auf dem ersten Bild: ein Mann mittleren Alters mit einem alten Schäferhund an der Leine. Beide blickten in die Kamera, nicht lachend, aber verbunden. Der Mann trug eine grobe Strickjacke, die Haare licht, die Augen ernst.
Emil stand plötzlich auf, trat näher, schnupperte am Foto.
Lotta hielt das Bild tiefer.
„Kennst du ihn?“
Keine Reaktion. Doch Emil blieb stehen, länger als sonst. Die Augen wach, der Körper gespannt.
Das zweite Bild zeigte denselben Mann, diesmal auf einer Bank an einer Bushaltestelle. Der Hund lag zu seinen Füßen. Dahinter ein Schild: Linie 70 – Endstation.
Lotta spürte ein Ziehen im Magen.
Diese Haltestelle. Die Bank. Das war ihre.
Sie sah weiter. Eine ganze Serie: Spaziergänge im Park. Der Mann mit dem Hund im Schnee. Der Hund allein vor einer Tür, offenbar wartend. Und zuletzt ein unscharfes Bild: der Hund, rennend, durch eine leere Straße, mit einem Zettel im Maul.
Sie stockte.
Der Hund auf dem Foto, es war Emil. Oder zumindest derselbe Körper, dieselbe Haltung. Vielleicht ein paar Jahre jünger. Aber es war kein Zweifel: das war er.
Lotta legte die Fotos in Reihenfolge, breitete sie wie ein Puzzle auf dem Tisch aus. Die Bilder erzählten eine Geschichte, aber keine vollständige. Fragmente. Szenen. Ein Mann, ein Hund, ein Alltag. Und dann das Ende: der Hund allein, der Mann nicht mehr zu sehen.
Sie ging ins Wohnzimmer, holte das kleine Album, in dem sie ihre alten Schwarz-Weiß-Bilder aufbewahrte. Ganz hinten, zwischen zwei Postkarten, fand sie ein Bild, das sie seit Jahren nicht mehr angesehen hatte.
Es zeigte sie selbst. Und ihren Mann. Und einen anderen Mann – Heinrich Friedrichs. In der Mitte. Zwischen ihnen. Alle drei vor dem alten Gasthof „Zur Linde“, der längst abgerissen war.
Lotta erinnerte sich nur vage. Ein Abendessen nach einem Vereinsausflug. Ihr Mann hatte gesagt: „Heinrich war mal Busfahrer. Guter Mann. Hat nur irgendwann alles verloren.“
Sie hatte es damals nicht verstanden. Jetzt schon.
Am nächsten Tag ging sie mit Emil zur alten Endhaltestelle der Linie 70. Dort, wo das Pflaster uneben war und das Wartehäuschen windschief. Sie setzte sich auf die Bank, wie schon so oft. Doch diesmal hielt sie das Foto mit dem Hund vor sich.
Ein alter Mann kam vorbei, schob ein Fahrrad mit plattem Reifen.
Er blieb stehen.
„Den kenn ich.“
Lotta blickte auf.
„Den Hund?“
„Ja. Der hat mal bei Heinrich gewartet. Jeden Tag. Jahrelang. Auch als Heinrich schon gar nicht mehr kam.“
„Und dann?“
Der Mann zuckte mit den Schultern.
„Eines Tages war er weg. Einfach so. Wie Heinrich. Der ist auch irgendwann verschwunden.“
Wieder zu Hause, setzte sich Lotta in den Sessel am Fenster, der auf die Straße hinausging. Emil lag ihr zu Füßen, aber die Fotos auf dem Tisch ließen sie nicht los.
Jemand hatte sie dort hingelegt.
Jemand, der wusste, dass sie sie finden würde.
Vielleicht war es der Mann im Krankenhaus.
Vielleicht nicht.
Aber jemand kannte Emil. Jemand wusste von Heinrich. Jemand verfolgte ihren stillen Alltag und streute Erinnerungen, damit sie ein Bild zusammensetzen konnte, das zu lange im Dunkeln lag.
Drei Tage vergingen. Keine neuen Zettel. Keine neuen Fotos. Kein fremder Umschlag vor der Tür.
Doch am vierten Tag lag ein Buch auf ihrer Fußmatte.
Ein kleines Notizbuch, mit Ledereinband. Abgewetzt, an den Rändern eingerissen. Keine Aufschrift.
Lotta öffnete es langsam.
Auf der ersten Seite, in großer, schwer lesbarer Schrift: „Notizen für Hasso – falls ich eines Tages nicht mehr bin.“
Ihr Herz setzte einen Schlag aus.
Sie las weiter.
Kurze Sätze, unregelmäßig geschrieben. Tagebucheinträge vielleicht. Gedankenfetzen.
„Hasso frisst nicht, wenn ich nicht mit ihm spreche.“
„Hasso hört auf das, was ich nicht sage.“
„Heute hat er mich zur Haltestelle gebracht, obwohl ich nicht wollte. Er wusste, dass ich gehen muss.“
„Ich habe niemanden mehr. Nur ihn.“
Lotta schlug eine Seite um.
„Wenn er verschwindet, bin ich nicht mehr da.“
Dann, eine letzte Seite, eingerissen:
„Er braucht jemanden, der wartet. Bitte.“
Sie legte das Buch mit zitternden Fingern auf den Tisch, neben die Keksdose, neben die Fotos, neben das alte Halsband, das sie Emil inzwischen wieder abgenommen hatte, um es zu säubern.
Es war alles da. Ein Leben. Eine Verbindung. Und jetzt?
Sie ging zu Emil, setzte sich neben ihn auf den Boden, legte ihre Hand auf seinen Rücken.
„Ich glaube, ich habe dich nicht gefunden. Du hast mich gewählt.“
Emil schloss die Augen.
Sie streichelte ihn lange. Schweigend.
In dieser Nacht träumte sie nicht.
Aber sie erwachte früh.
Noch bevor das Licht durch das Fenster drang, war sie angezogen, bereit.
Sie wusste nicht genau, wohin sie wollte. Aber sie wusste: Sie konnte nicht einfach nur warten.
Sie nahm das Notizbuch mit. Die Fotos. Den letzten Brief.
Und sie schrieb etwas Eigenes.
Auf ein neues Blatt Papier.
Dann legte sie den Brief auf das Kopfkissen und ließ Emil zum ersten Mal allein an der Haltestelle zurück.