Lotta und der letzte Bus | Sie wartete jeden Abend auf den Bus doch was ihr Hund tat, veränderte alles

🐾 Teil 7: Der Hund, der wartete

Der Morgen war klar, fast zu hell für die Jahreszeit. Die Bäume warfen lange, nackte Schatten auf den Gehweg, und die Luft roch nach altem Frost und neuer Unruhe. Lotta stand am Fenster, hielt eine Tasse Tee in der Hand und sah, wie Emil langsam zum Gartentor trottete, stehen blieb und sich umsah.

Sie hatte es ihm erklärt. So gut sie konnte.

„Ich komme später. Warte nicht zu lang.“

Er hatte sie nur angesehen, dann den Kopf geneigt. Kein Ja. Kein Nein. Nur dieses stille Einverständnis, das mehr sagte als jedes Bellen.

Jetzt sah sie ihn durch die Scheibe. Wie er den Weg zur Bushaltestelle einschlug, langsam, bedacht. Ohne sie.

Zum ersten Mal.

Lotta setzte sich. Ihre Knie schmerzten mehr als sonst. Vielleicht wegen der Kälte. Vielleicht auch wegen des Abschieds.

Auf dem Tisch lag der Brief, den sie in der Nacht geschrieben hatte. Ihre Handschrift war langsam geworden, ungleichmäßig. Aber jedes Wort war durchdacht.

„An den, der all das weiß“, hatte sie begonnen.

Sie hatte alles aufgeschrieben. Wie Emil zu ihr kam. Was sie über Heinrich wusste. Die Bilder. Die Notizen. Die Nacht im Krankenhaus. Ihre Fragen.

Und am Ende eine Bitte.

„Wenn Sie noch etwas wissen, kommen Sie. Oder schreiben Sie mir. Ich warte.“


Gegen Mittag zog sie sich langsam an. Die Gelenke wollten nicht recht mitmachen, doch sie zwang sich, aufzustehen. Der Weg führte sie zum Klinikum, wieder in Zimmer 312. Der Mann mit dem verbundenen Kopf lag noch immer da, schmaler geworden, aber mit wachen Augen.

Sie setzte sich an sein Bett.

„Ich war bei deiner Haltestelle“, sagte sie leise. „Er war da. Er wartet noch immer.“

Er blinzelte, langsam, aber diesmal anders. Als hätte das Wort etwas ausgelöst.

„Hasso“, flüsterte Lotta.

Ein Zittern ging durch seine Lippen. Fast unmerklich.

Sie reichte ihm das Foto vom Hund mit dem roten Band.

„Er hat sich verändert, aber er ist es. Und er sucht jemanden.“

Der Mann hob mühsam die Hand, legte zwei Finger auf das Bild. Dann auf seine Brust.

Lotta hielt den Atem an.

„Du warst es? Bist du der, der geschrieben hat?“

Ein schwaches Nicken.

Sie holte das Notizbuch hervor, zeigte ihm die Einträge.

Er sah sie an, lange, ruhig. Und dann ein leises, krächzendes Wort:

„Danke.“


Auf dem Heimweg fiel ihr Schritt leichter. Nicht weil die Kälte nachließ. Sondern weil sich etwas geklärt hatte. Nicht alles, aber genug für heute.

Als sie an der Bushaltestelle ankam, saß Emil dort. Allein. Die Ohren gesenkt, den Blick auf die Straße gerichtet.

Er drehte den Kopf, als sie kam. Stand auf. Ging nicht auf sie zu.

Lotta blieb stehen.

„Ich hab’s getan“, sagte sie. „Ich war dort.“

Emil trat langsam näher, legte seinen Kopf an ihr Bein.

Sie kniete sich zu ihm hinunter, strich ihm über das Fell.

„Du bist kein Hund, der einfach bleibt. Du bist einer, der erinnert.“


Am Abend klingelte es zum ersten Mal seit Wochen.

Ein alter Mann stand vor der Tür. Dünn, mit schmalen Schultern, aber festen Augen. In der Hand hielt er einen Stock, in der anderen eine Tasche aus grobem Stoff.

„Frau Kramer?“

Sie nickte.

„Mein Name ist Klaus Friedrichs. Ich bin der Neffe von Heinrich.“

Sie ließ ihn eintreten. Emil blieb an der Tür stehen, blickte ihn lange an, dann kam er näher, schnupperte vorsichtig.

„Er erkennt mich nicht. Ist auch besser so.“

Sie setzten sich an den Küchentisch. Lotta kochte Tee, holte ein altes Glas mit Apfelmarmelade, schnitt Brot. Kleine, einfache Gesten, die das Reden erleichtern.

„Ich wusste, dass mein Onkel diesen Hund sehr geliebt hat. Aber er hat nie erzählt, woher er ihn hatte.“

Lotta reichte ihm die Fotos. Den Zettel. Das Buch.

Er betrachtete jedes Stück mit stiller Aufmerksamkeit. Manchmal hielt er inne, fuhr mit dem Finger über ein Bild, als wollte er etwas berühren, was längst vergangen war.

„Er hat den Hund vor vielen Jahren aufgenommen. Damals war mein Onkel obdachlos. Hat unter Brücken geschlafen, auf Friedhöfen. Hasso war seine einzige Konstante.“

„Und dann?“

„Irgendwann kam ein Sozialarbeiter, brachte ihn ins Heim. Hasso durfte nicht mit. Und dann ist er ausgebüxt. Der Hund. Wochenlang haben sie nach ihm gesucht.“

„Bis er zu mir kam.“

Klaus nickte.

„Und als ich Ihre Briefe gesehen habe… ich wusste, ich muss kommen.“


Sie redeten lange.

Über alte Zeiten. Über Einsamkeit. Über das Gefühl, dass man Menschen verliert, bevor sie wirklich weg sind.

Als er ging, blieb Emil an der Tür stehen.

Der Mann bückte sich langsam, streichelte ihn hinter den Ohren.

„Du hast ihm mehr gegeben als viele Menschen.“

Dann war er fort.


Lotta stand noch lange am Fenster, sah dem leeren Gehweg nach.

Der Schnee setzte wieder ein. Feiner Staub, lautlos fallend.

Sie holte den letzten Brief aus der Keksdose. Las ihn noch einmal.

„Wenn Sie noch etwas wissen, kommen Sie.“

Und jetzt wusste sie mehr. Nicht alles. Aber genug.


In der Nacht schlief sie unruhig. Immer wieder sah sie Emil vor der Haltestelle sitzen. Allein. Wartend. Immer wartend.

Als sie am nächsten Morgen aufstand, war es still im Haus.

Zu still.

Sie rief leise nach ihm.

Keine Antwort.

Sie ging zur Tür.

Der Platz vor dem Haus war leer.


Auf dem Gehweg lag nur das Halsband ordentlich zusammengelegt, mit einer neuen Notiz darunter: „Er hat seinen Platz gefunden. Jetzt bist du dran.“

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