Lotta und der letzte Bus | Sie wartete jeden Abend auf den Bus doch was ihr Hund tat, veränderte alles

🐾 Teil 8: Jetzt bist du dran

Lotta hob das Halsband vorsichtig auf. Das Leder war noch warm von der Nacht, roch nach Fell und Wind. Die Schnalle glänzte matt, und in der kleinen Öse hing noch immer die Marke mit den Initialen H.F.

Unter dem Halsband lag ein schmal gefalteter Zettel.

Sie entfaltete ihn mit zitternden Fingern.

„Er hat seinen Platz gefunden. Jetzt bist du dran.“

Kein Absender. Keine weitere Erklärung.

Lotta ging zurück ins Haus, das Halsband in der einen, den Zettel in der anderen Hand. Ihr Herz klopfte schneller als gewöhnlich, aber nicht vor Angst. Eher wie ein Takt, der plötzlich beschleunigte, weil er eine neue Melodie erkannt hatte.

Sie setzte sich an den Küchentisch, legte beides vor sich hin. Die Keksdose mit den Briefen stand noch immer da, daneben das alte Notizbuch, das Foto mit Emil, der roten Schleife, dem Mann.

Jetzt war es an ihr. Aber was bedeutete das?


Den ganzen Tag über ging sie wie in Nebel durch die Wohnung. Sie hörte Geräusche, die nicht da waren – das Kratzen von Krallen auf dem Boden, das leise Schnauben im Schlaf. Doch Emil war fort. Nicht tot, das spürte sie. Auch nicht geflohen. Sondern weitergezogen.

Er hatte seine Aufgabe erfüllt.

Und sie hatte noch keine.


Am Abend setzte sie sich allein an die Haltestelle. Zum ersten Mal ohne Emil.

Sie erwartete nichts. Aber sie wollte dort sein, wo sie ihn das erste Mal bemerkt hatte. Wo sie verstand, dass man nicht alleine warten muss.

Die Bank war kalt. Der Himmel offen und wolkenlos. Die Straßen leer.

Eine junge Frau ging vorbei, sah sie, zögerte kurz, blieb stehen.

„Geht’s Ihnen gut?“, fragte sie.

Lotta nickte.

„Ich warte.“

Die Frau lächelte schmal, ging weiter.

Es war eine andere Art des Wartens jetzt. Kein Sehnen. Mehr ein Lauschen. Auf etwas, das kommen könnte.


Zwei Tage vergingen. Kein Hund. Kein Brief.

Dann stand plötzlich ein Junge vor ihrer Tür. Vielleicht zehn Jahre alt, schmal, mit zu großen Turnschuhen und einem offenen Blick.

„Sie sind doch die mit dem alten Hund, oder?“

Lotta öffnete die Tür ganz.

„War“, sagte sie.

Der Junge zuckte mit den Schultern. „Ich hab was für Sie.“

Er holte aus der Jackentasche einen zerknitterten Zettel. Reichte ihn ihr mit beiden Händen, fast ehrfürchtig.

„Das lag in unserem Briefkasten. Da stand Ihr Name drauf.“

Lotta dankte ihm, schloss die Tür langsam. Der Junge blieb noch kurz vor dem Fenster stehen, dann lief er davon.

Sie öffnete den Zettel.

Nur ein Satz:

„Emil bringt jetzt jemand anderen nach Hause.“


Es war kein Schmerz in ihr, als sie das las.

Eher eine Art Frieden.

Sie ging zum Bücherregal, suchte einen alten Umschlag mit den Briefen ihres Mannes. Las einige davon, spürte die alte Handschrift in ihren Fingern, das Gewicht der Jahre. Dann schrieb sie selbst.

Einen neuen Brief.

Nicht an Emil. Nicht an den, der geschrieben hatte.

Sondern an sich.

„Ich bin nicht mehr allein. Auch wenn niemand mehr bei mir wohnt.“


In den Tagen danach begann sie, sich zu verändern.

Langsam, fast unmerklich.

Sie ging öfter raus, setzte sich manchmal einfach auf eine Bank im Park, nur um zu beobachten. Die Vögel. Die Kinder. Die Stille.

Und dann, an einem Donnerstagmorgen, sah sie wieder einen Hund.

Nicht Emil.

Kleiner. Weiß mit schwarzen Tupfen. Zitternd. Ganz allein unter einem Baum beim Spielplatz.

Lotta ging hin.

Er wich nicht zurück, sondern sah sie nur an. Ohne Angst. Eher wie jemand, der fragt: Bist du es?

Sie streckte die Hand aus. Der Hund schnupperte, leckte kurz ihre Finger.

An seinem Halsband hing nichts.

Kein Name. Kein Zuhause.

Lotta setzte sich auf die Bank, wartete.

Nach zehn Minuten kam niemand.

Nach zwanzig war es still wie zuvor.

Sie sprach leise.

„Hast du jemanden verloren?“

Der Hund legte sich an ihre Füße.


Sie nannte ihn Max. Weil der Name leicht von den Lippen ging. Und weil er passte.

Max folgte ihr nach Hause. Trank aus Emils Napf, legte sich auf Emils alte Decke, als hätte er darauf gewartet. Als hätte jemand ihn geschickt.

Sie dachte nicht mehr an Zufall.


Einige Tage später schrieb sie wieder einen Brief.

Diesmal legte sie ihn selbst unter den Fahrradständer.

Dazu ein Foto von Max. Und ein Satz:

„Ich habe ihn nicht gesucht. Aber ich glaube, er ist angekommen.“

Als sie am nächsten Tag nachsah, war alles verschwunden.

Kein Brief lag da. Keine Nachricht.

Aber an der Stelle, wo sie es hingelegt hatte, war eine kleine Zeichnung in den Staub gekratzt:

Ein Herz. Und daneben: E.


Lotta fuhr zum Krankenhaus. Zimmer 312 war leer.

Der Mann war entlassen worden. Keine Adresse. Kein Ziel.

Die Schwester sagte nur:

„Er hat einen Hund abgeholt. Ein kleiner mit weißen Tupfen. Der wartete tagelang draußen. Sie kamen gemeinsam und sind gemeinsam gegangen.“

Lotta lächelte.

Sie verstand jetzt.


Am Abend saß sie mit Max an der Haltestelle.

Es war windig. Ein Bus fuhr vorbei. Niemand stieg ein. Niemand stieg aus.

Aber für einen Moment sah sie durch die Scheibe ein Gesicht.

Alte Augen. Und ein Lächeln.

Vielleicht Einbildung. Vielleicht Erinnerung.

Doch als der Bus verschwand, war sie sich sicher:

Manche Begegnungen gehen nie wirklich fort.


Als sie nach Hause kam, lag ein letzter Umschlag vor ihrer Tür – darin ein alter, vergilbter Stadtplan mit einem roten Kreuz mitten im Auwald.

Scroll to Top