Lotta und der letzte Bus | Sie wartete jeden Abend auf den Bus doch was ihr Hund tat, veränderte alles

🐾 Teil 9: Das Kreuz im Auwald

Der Stadtplan war alt, die Ecken ausgefranst, die Farbe ausgebleicht. Straßen, die es längst nicht mehr gab, waren noch eingezeichnet. Einige Haltestellen trugen andere Namen. Doch das Kreuz in der Mitte – rot und klar – fiel sofort ins Auge.

Lotta breitete die Karte auf dem Küchentisch aus. Max lag unter dem Fenster und beobachtete jede ihrer Bewegungen. Die Sonne warf lange Streifen durchs Glas, tanzte über die Linien der alten Stadt.

Das Kreuz lag mitten im Auwald. Nicht direkt an einem Weg, sondern leicht abseits, zwischen zwei kaum erkennbaren Lichtungen. Kein Kommentar, kein Zettel. Nur das Kreuz.

Sie nahm den Finger, fuhr die Straßen nach, die Wege, die sie kannte. Von ihrer Wohnung aus brauchte sie vielleicht dreißig Minuten. Vielleicht vierzig, wenn die Knie wieder mitreden wollten.

Max hob den Kopf, als sie aufstand.

„Willst du mitkommen?“, fragte sie.

Er wedelte leicht mit dem Schwanz, als hätte er die Frage schon erwartet.


Sie nahm den alten Mantel, einen Stoffbeutel, in den sie Wasser und eine kleine Decke steckte, und band sich ein Tuch um den Hals. Nicht wegen der Kälte. Sondern aus Erinnerung.

Dann verließ sie das Haus. Die Straße war ruhig, der Himmel wolkenverhangen. Aber in ihrer Brust brannte ein leises Licht.

Sie ging langsam. Max lief frei, entfernte sich nie weit. Manchmal blieb er stehen, blickte zurück, als wollte er fragen, ob sie noch dabei sei.

Nach zwanzig Minuten bogen sie in den Wald ein. Die Geräusche der Stadt fielen ab wie Staub von den Schultern. Nur noch das Knacken der Äste, der Ruf eines Vogels, das Rascheln im Laub.

Der Auwald war ein stiller Ort. Selbst im Sommer war er nie laut. Jetzt, im Spätherbst, lag er wie vergessen da. Kein Mensch begegnete ihnen.

Lotta hielt den Plan fest in der Hand, verglich die Wege, bog an einer alten Eiche rechts ab, dann wieder links an einem verrotteten Holzschild. Die Luft wurde feuchter, schwerer.

Dann sah sie es.


Ein kleiner Platz, kaum größer als ein Wohnzimmer. Umsäumt von Bäumen, von denen das Laub schon fast verschwunden war. In der Mitte: ein alter Holzpfosten, verwittert, bemoost. Daneben lag ein flacher Stein, mit einer eingelassenen Metallplatte.

Lotta trat näher.

Der Stein war keine Grabplatte, eher ein Gedenkstein. In die Platte war eingeritzt:

„Für alle, die warteten.“

Darunter: keine Namen. Kein Datum.

Nur das.

Sie ließ sich langsam auf die Bank fallen, die ein Stück weiter hinten stand. Ihr Atem ging schwerer. Nicht vor Erschöpfung. Sondern vor dem Gewicht dessen, was sie nicht verstand – und doch fühlte.

Max legte sich zu ihren Füßen, schloss die Augen.

Sie blieb lange dort. Schweigend. Nur das Rauschen der Blätter über ihnen bewegte sich, als würde jemand flüstern, den man nicht sehen konnte.


Nach einer Weile entdeckte sie etwas hinter dem Gedenkstein.

Ein kleiner Kasten, aus Metall, rostig, aber noch intakt. Wie ein alter Briefkasten. Oben stand eingraviert: “Für Briefe, die niemand abschickt.”

Sie öffnete ihn vorsichtig.

Darin lagen vielleicht zwanzig Briefe. Manche vergilbt, andere in Plastikfolie geschützt. Einige waren in alter Schrift verfasst, andere mit kindlichen Buchstaben.

Sie zog einen heraus. Las.

„Ich konnte dich nie fragen, ob du geblieben wärst, wenn ich mutiger gewesen wäre.“

Ein anderer:

„Du hast mich mit deinem Schweigen mehr getröstet als hundert Worte.“

Sie legte die Briefe zurück, vorsichtig, ehrfürchtig.

Dann zog sie ein leeres Blatt aus ihrer Tasche.

Und schrieb.

„Du hast mir gezeigt, dass Warten keine Schwäche ist. Sondern eine Form von Liebe. Danke, Emil.“

Sie faltete den Zettel, legte ihn zu den anderen.

Dann blieb sie noch eine Weile sitzen, während Max zwischen den Bäumen schnüffelte.


Auf dem Rückweg dachte sie an Heinrich. An Klaus. An den Mann im Krankenhaus. An all die Menschen, die gewartet hatten – auf jemanden, auf ein Wort, auf ein Zeichen.

Und an all die Hunde, die still dabei geblieben waren.

Am Waldrand stand ein älterer Mann mit einem Fernglas. Er sah aus wie ein Spaziergänger, vielleicht ein Vogelbeobachter. Lotta wollte weitergehen, doch er hob die Hand.

„Schöner Hund“, sagte er.

„Ja“, antwortete sie.

„War er allein da draußen?“

„Nicht mehr.“

Er nickte. Dann zog er aus seiner Jackentasche ein altes Foto.

„Kennen Sie ihn?“

Es war ein Bild von Emil. Jünger. Ohne Halsband. Vor demselben Gedenkstein.

„Ich hab ihn vor Jahren fotografiert. Ganz allein. Ich komm oft hierher.“

Lotta nahm das Bild, betrachtete es lange.

„Er hat auf jemanden gewartet“, sagte sie.

Der Mann nickte.

„Vielleicht war es nicht nur einer. Vielleicht wartete er für alle.“


Zu Hause legte sie das Foto neben das Notizbuch.

Sie schrieb nichts mehr an diesem Abend. Machte nur Tee, streichelte Max, hörte den Wind. Es war ruhig.

Sie dachte an all die Briefe, die nie abgeschickt wurden. An das kleine Metallkästchen im Wald.

Und daran, dass manche Worte erst dann ankommen, wenn man aufhört, sie festzuhalten.


Am nächsten Morgen lag wieder etwas vor der Tür.

Nicht im Briefkasten. Einfach auf der Fußmatte.

Ein alter Busfahrschein. Nicht abgerissen, sondern unbenutzt. Mit einer Schleife darum.

Und darunter ein Zettel.

„Eine letzte Fahrt. Wenn du bereit bist.“


Lotta legte den Fahrschein in ihre Manteltasche und machte sich auf den Weg zur Endhaltestelle der Linie 70.

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