Lotta und der letzte Bus | Sie wartete jeden Abend auf den Bus doch was ihr Hund tat, veränderte alles

🐾 Teil 10: Die letzte Fahrt

Es war noch früh, als Lotta sich auf den Weg machte. Der Busfahrschein steckte in der Innentasche ihres Mantels, sorgfältig gefaltet, als wäre er ein Stück Papier aus einer anderen Zeit. Max lief neben ihr her, ruhig und wachsam, als wüsste er, dass dieser Tag anders war als die anderen.

Die Luft war klar, aber nicht kalt. Der Nebel hing tief zwischen den Häusern, zog wie ein Tuch durch die Straßen von Leipzig-Gohlis. Lotta ging langsam. Ihre Gelenke taten weh, doch sie spürte keinen Widerstand in sich. Heute nicht. Heute führte sie nichts zurück.

An der Endhaltestelle der Linie 70 war niemand.

Nur der Bus.

Ein alter, cremefarbener Wagen mit runden Scheinwerfern und leicht schiefem Nummernschild. Die Türen standen offen. Kein Fahrer in Sicht. Kein Motorengeräusch.

Als Lotta näher trat, spürte sie ein Kribbeln in der Brust. Keine Angst. Mehr wie ein Zittern vor etwas Großem, das man lange erwartet hat, ohne zu wissen, wann es wirklich kommt.

Sie betrat den Bus.

Die Sitze waren abgenutzt, aber sauber. Der Geruch war vertraut, ein Hauch von Staub, alten Polstern und etwas, das sie nicht benennen konnte. Vielleicht Erinnerung.

Ganz hinten, auf dem Platz am Fenster, lag eine Decke.

Max sprang hinauf, rollte sich ein, als gehöre dieser Platz ihm schon immer.

Lotta setzte sich auf den Platz daneben.

Sie hielt den Fahrschein in der Hand.

„Entwerten musst du den nicht“, sagte eine Stimme.

Lotta blickte auf.

Ein Mann stand in der Tür. Graues Haar, ruhige Augen, ein Lächeln, das nichts forderte. Er setzte sich auf den Fahrersitz, legte beide Hände ans Lenkrad, ohne den Motor zu starten.

„Frau Kramer“, sagte er.

„Woher wissen Sie meinen Namen?“

„Ich kenne die, die warten“, antwortete er. „Und ich kenne die, die gefunden wurden.“

Sie wollte etwas sagen, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken.

Der Mann startete den Bus.

Kein Ruck. Kein Lärm. Nur ein sanftes Summen, das sich anfühlte wie ein tiefes Einatmen.

Der Bus setzte sich in Bewegung.


Die Straßen zogen langsam vorbei. Häuser, die sie kannte. Bäume, an denen sie oft vorbeigegangen war. Der Spielplatz, die kleine Bäckerei, die Bank vor dem Friedhof. Alles war vertraut. Und doch schien es stiller, langsamer, heller.

Lotta sah aus dem Fenster.

Sie dachte an Heinrich. An Emil. An den Mann im Krankenhaus. An die Briefe. An die Haltestelle. An den Auwald.

Sie dachte nicht in Reihenfolge.

Nur in Gefühlen.

Der Bus bog nicht auf die Hauptstraße ab, sondern fuhr weiter Richtung Norden. Vorbei an der alten Mühle, dann durch eine Allee, deren Äste sich wie ein Torbogen über die Straße legten.

Sie wollte fragen, wohin sie fuhren.

Aber sie wusste es schon.

Nicht geografisch.

Sondern innerlich.


Nach einer Weile hielt der Bus.

Nicht an einer Haltestelle. Sondern an einem Feldweg.

Der Fahrer drehte sich um.

„Hier steigen Sie aus.“

Lotta zögerte.

„Ist das das Ende?“

Er schüttelte den Kopf.

„Nein. Aber es ist der Anfang von etwas, das Sie kennen.“

Sie stand langsam auf. Max sprang vom Sitz, streckte sich, blickte sie an.

Sie trat aus dem Bus.

Vor ihr: eine Wiese, leicht neblig, mit einem einzelnen Apfelbaum in der Mitte. Darunter: eine Bank. Und auf der Bank, eine Gestalt.

Ein Mann, in einem Mantel, der leicht im Wind flatterte. Er hatte den Rücken zu ihr gewandt.

Lotta ging langsam näher.

Max blieb neben ihr, kein Laut, kein Ziehen.

Als sie bei der Bank angekommen war, drehte sich der Mann um.

Und sie erkannte ihn.

Falten um die Augen, aber dasselbe Lächeln. Dieselbe Ruhe.

Ihr Mann.

„Du bist spät dran“, sagte er.

Sie setzte sich langsam.

„Ich musste jemanden begleiten.“

Er nickte.

„Er hat dich gut geführt.“

Sie blickte zu Max, der sich nun unter den Baum legte.

„Und ich dachte, ich hätte ihn gerettet.“

„Vielleicht habt ihr euch einfach gebraucht.“

Sie sprachen nicht viel.

Die Zeit floss anders hier.

Keine Uhr. Kein Geräusch außer dem Wind.

Nur zwei Menschen, die ein Leben geteilt hatten in der Erinnerung und im Warten.


Als Lotta wieder aufstand, wusste sie, dass sie zurückkehren würde.

Nicht sofort. Nicht heute.

Aber irgendwann.

Der Fahrer wartete noch.

Sie stieg ein. Max hinter ihr.

Der Bus fuhr los, diesmal schneller. Die Bilder draußen flackerten, als blättere jemand durch ein altes Fotoalbum. Haus um Haus, Straße um Straße.

Dann wieder ihre Haltestelle.

Sie stieg aus. Max folgte.

Der Bus fuhr weiter. Ohne sie.

Aber sie fühlte keinen Verlust.

Nur Dankbarkeit.


Zuhause legte sie den Fahrschein neben die Keksdose.

Dann holte sie Papier und schrieb.

„Für alle, die noch warten. Manchmal kommt der Bus. Und manchmal kommt jemand zu Fuß. Aber immer lohnt es sich, da zu bleiben.“

Sie legte den Zettel in einen neuen Umschlag.

Am nächsten Tag brachte sie ihn in den Auwald.

Steckte ihn in die kleine Metallkiste hinter dem Gedenkstein.

Und lächelte.


Manchmal saß sie noch an der Haltestelle. Manchmal auch nicht.

Aber Max war immer bei ihr.

Und wenn jemand fragte, ob der Hund ihr gehöre, sagte sie:

„Nein. Aber er hat mich gewählt.“

Und das war genug.

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