🐾 Teil 4: Schnee auf dem Hof, Feuer im Herzen
Als Luisa am nächsten Morgen durch den Flur rollte, war etwas anders. Der Geruch nach frischem Brot und Kaffee lag wie immer in der Luft, aber die Stimmen der Pflegekräfte waren gedämpft. Niemand lachte. Sogar Frau Witting, die sonst jeden begrüßte, blickte nur kurz auf und wandte sich dann wortlos ab.
Luisa spürte die Unruhe, noch bevor sie den Behandlungsraum erreichte.
Die Tür war halb geöffnet. Drinnen standen zwei Männer in grünen Kitteln und ein Tierarzt, den sie bisher noch nie gesehen hatte. In der Mitte lag Lumo, nicht wie sonst, wachsam und neugierig, sondern ausgestreckt, den Kopf auf den Pfoten, die Augen geschlossen. Sein rechtes Hinterbein war erneut geschwollen, fast doppelt so dick wie am Vortag. Ein Infusionsschlauch führte zu seiner Schulter.
Luisa erstarrte.
„Was ist mit ihm?“ Ihre Stimme zitterte.
Der Tierarzt sah sie an. Kurz nur. Dann wandte er sich an Frau Witting.
„Wir brauchen jetzt bitte etwas Ruhe. Das Mädchen sollte nicht…“
„Ich bleibe“, sagte Luisa fest.
Der Mann zögerte. Dann nickte er langsam.
Sie setzte sich neben Lumo auf den Boden. Ihr Rücken lehnte gegen den Schrank, die Fliesen waren kalt, aber sie spürte es kaum. Alles, was zählte, war das gleichmäßige Heben und Senken von Lumos Brustkorb.
„Er hatte eine innere Entzündung“, erklärte Frau Witting leise. „Wahrscheinlich vom Verband oder von zu viel Belastung. Es ist ernster, als wir dachten.“
Luisa blickte auf Lumos Pfote. Sie bewegte sich leicht. Ein Zucken, mehr nicht.
„Wird er wieder gesund?“
Niemand antwortete.
Die nächsten Stunden vergingen wie in Watte. Luisa wich nicht von seiner Seite. Sie trank nichts, aß nichts, sprach kaum.
Abends kam ihr Vater. Er setzte sich zu ihr auf den Boden.
„Komm, es ist Zeit fürs Bett.“
„Ich schlafe hier.“
„Luisa…“
„Wenn ich damals im Auto wach gewesen wäre, hätte ich Mama vielleicht retten können.“
Jan schloss die Augen.
„Das kannst du nicht wissen.“
„Aber Lumo hat ein Kind aus dem Feuer geholt. Und jetzt kann ich nicht mal für ihn da sein?“
Jan legte den Arm um sie.
„Du bist da. Mehr als je zuvor.“
Lumo verbrachte drei Tage in der tierärztlichen Station der Klinik. Luisa durfte ihn nur durch eine Glasscheibe sehen. Der Tierarzt, Dr. Seiler, erklärte ihr, dass Lumo Antibiotika bekomme, Schmerzmittel, Schonung.
„Das Bein könnte versteifen, wenn es nicht besser wird“, sagte er.
Luisa verstand: Wenn das passierte, würde Lumo nie wieder normal laufen. Vielleicht nicht einmal mehr stehen.
Am Abend saß sie im Gemeinschaftsraum und zeichnete. Auf dem Blatt: Lumo mit Flügeln. Nicht weil er tot war, sondern weil sie wollte, dass er fliegen kann. Weit weg von Schmerzen.
Am vierten Morgen durfte sie wieder zu ihm.
Er lag da wie zuvor. Aber als sie eintrat, hob er den Kopf. Nur ein kleines bisschen. Ihre Hand wanderte sofort an seinen Hals. Unter dem Fell schlug sein Herz langsam, aber stark.
„Ich bin wieder da“, flüsterte sie.
Dann holte sie aus ihrer Tasche den Anhänger. Den, den sie ihm abgenommen hatte, als er so krank wurde. Sie hing ihn ihm wieder um.
„Wir schaffen das. Du bist nicht allein.“
In der Physiotherapie lief es schlechter. Ohne Lumo an ihrer Seite fehlte ihr der Antrieb. Die Stufen, die sie letzte Woche geschafft hatte, fühlten sich nun doppelt so hoch an. Ihre Beine zitterten mehr. Einmal fiel sie fast.
Herr Klee fing sie auf.
„Kämpf nicht gegen das Gefühl“, sagte er. „Aber vergiss nicht, warum du angefangen hast.“
Luisa nickte. Tränen standen ihr in den Augen.
Am Wochenende war der Regen zurück. Der Apfelbaum im Hof war kahl geworden. Der Wind peitschte durch die Äste.
Luisa ging trotzdem nach draußen. In Jacke und Schal. Sie wollte spüren, was Lumo gerade nicht konnte. Den Himmel. Die Kälte. Den Widerstand.
Sie stellte sich auf die Rampe, allein. Ohne Gehhilfe. Nur für einen Moment. Ihre Beine schmerzten, das Gleichgewicht wankte. Doch sie blieb stehen.
„Das machen wir wieder zusammen“, sagte sie laut in den Wind. „Du und ich.“
Montag früh.
Ein Brief lag auf ihrem Nachttisch. Keine Adresse. Kein Absender. Nur ihr Name, in krakeliger Kinderschrift.
Sie öffnete ihn.
Liebe Luisa,
mein Name ist Emil. Ich bin der Junge, den Lumo aus dem Feuer gerettet hat.
Ich hab gehört, er ist bei euch und krank. Ich hab ihn lieb. Sag ihm bitte, dass ich immer noch jeden Abend danke sage. Und dass ich glaube, er schafft das.
Wenn du willst, darf er jetzt dein Held sein. Ich teile ihn gern.Dein Emil
Luisa hielt den Brief an die Brust. Dann rannte sie, so schnell sie mit dem Rollstuhl konnte, zur Station.
Lumo lag da. Aber er hatte die Augen geöffnet. Als sie sich näherte, hob er sogar leicht den Kopf.
„Hast du gehört?“, sagte sie. „Er glaubt an dich. Und ich auch.“
Sie zeigte ihm den Brief. Lumo blinzelte. Dann leckte er über ihre Finger.
Die nächsten Tage brachte sie ihm Geschichten. Bilder. Musik vom alten Kassettenrekorder. Sie las ihm vor. Manchmal nur ein paar Seiten, manchmal Kapitel. Sie wusste nicht, ob er verstand. Aber er hörte zu.
Dann, eines Morgens, kam Dr. Seiler mit einem Lächeln ins Zimmer.
„Er frisst wieder.“
Und am Abend stand Lumo zum ersten Mal seit einer Woche auf.
Am folgenden Mittwoch wartete Luisa schon um sechs Uhr früh im Flur. Mit Schal, Mütze, selbstgestrickten Handschuhen. Draußen lag Nebel über den Feldern.
Dann hörte sie das Geräusch.
Krallen auf Fliesen. Langsam. Aber sicher.
Und dann kam er um die Ecke.
Lumo. Dünner als zuvor. Noch immer etwas steif. Aber er lief.
Langsam. Direkt auf sie zu.
Luisa schlug die Hände vor den Mund.
Lumo blieb vor ihr stehen. Sie kniete sich hin, umarmte ihn, legte die Stirn gegen seinen Hals.
„Ich wusste es.“
Aber noch ahnte niemand, dass die größte Entscheidung erst bevorstand.