Luisa läuft wieder | Sie konnte nicht mehr laufen. Doch ein verletzter Hund zeigte ihr, wie man wieder aufsteht

🐾 Teil 5: Wer heilt zuerst, du oder ich?

Der Oktober war hereingebrochen wie ein stiller Besucher. Die Sonne zeigte sich nur noch selten, und selbst die buntesten Blätter wirkten müde. Im Rehazentrum roch es jetzt nach Tee, Wolle und Heizungsluft.

Luisa war stärker geworden. Ihre Schritte auf der Übungsrampe wurden fester, ihre Haltung gerader. Und jedes Mal, wenn sie fast strauchelte, war da Lumo. Er ging wieder. Nicht schnell. Nicht rund. Aber mit Würde. Sein Bein schwang leicht zur Seite, wenn er lief, als würde es ihn nichts angehen.

Eines Morgens holte Herr Klee Luisa früher als sonst ab.

„Wir haben heute einen besonderen Termin“, sagte er.

„Ist es wegen Lumo?“

„Auch. Es geht um euch beide.“


Sie fuhren mit dem Aufzug ins Erdgeschoss. Dort wartete bereits Dr. Seiler, der Tierarzt, zusammen mit einer jungen Ärztin in weißem Kittel. Sie stellte sich vor als Dr. Reichel, Fachärztin für Neurorehabilitation.

Sie setzten sich gemeinsam an den Tisch. Auf der einen Seite Luisa mit ihrem Vater. Auf der anderen: die beiden Ärzte, Frau Witting und Herr Klee.

„Wir möchten offen mit euch sprechen“, begann Dr. Reichel.

„Sowohl Luisa als auch Lumo haben unglaubliche Fortschritte gemacht. Aber beide stehen jetzt vor einem Punkt, an dem einfache Therapie nicht mehr ausreicht.“

Jan runzelte die Stirn.

„Was heißt das genau?“

Dr. Seiler übernahm.

„Lumo könnte mit einem speziellen chirurgischen Eingriff und anschließender Physiotherapie die vollständige Belastung seines Beins zurückerlangen. Ohne Operation wird er vermutlich dauerhaft hinken und auf lange Sicht Schmerzen haben.“

Dr. Reichel ergänzte:

„Und Luisa hätte die Möglichkeit, an einem intensiven robotergestützten Trainingsprogramm teilzunehmen. Dabei wird ihr Gang Schritt für Schritt aufgebaut, mit elektronischer Unterstützung und neuronaler Rückkopplung. Die Erfolgsquote ist hoch, aber die Kasse übernimmt die Kosten nicht vollständig.“

Luisa blickte von einem Gesicht zum anderen.

„Was bedeutet das?“

Jan räusperte sich.

„Es bedeutet, wir müssten uns entscheiden. Wir haben nicht genug Geld für beides.“


Im Zimmer saßen Vater und Tochter lange schweigend nebeneinander. Lumo schlief auf seiner Decke. Draußen klopfte der Regen an die Scheibe.

„Wie viel kostet die Operation für Lumo?“, fragte Luisa schließlich.

„Fast viertausend Euro. Und dein Therapieprogramm über sechstausend. Ich könnte einen Kredit aufnehmen, aber…“

„Aber nicht für beides.“

Jan nickte. Seine Stimme war brüchig.

„Ich hasse das“, flüsterte Luisa.

Dann standen sie einfach nur da. Zwei Menschen, die beide einen Teil ihres Herzens verloren hatten und nun entscheiden sollten, welcher Teil schneller heilt.


In der Nacht lag Luisa wach.

Sie dachte an ihre Beine. An das Ziehen in den Muskeln. An die Tage, an denen sie nicht mehr spürte, ob ihre Füße auf dem Boden standen.

Aber sie dachte auch an Lumo. Wie er sie angeschaut hatte, als sie die Stufen bezwungen hatte. Wie er sie getröstet hatte, ohne ein einziges Wort.

Sie drehte sich auf die Seite, griff nach dem kleinen Notizbuch auf ihrem Nachttisch und schrieb.

Wenn ich laufen kann, aber er nicht, wer zieht dann wen durch das Leben?


Am nächsten Morgen bat sie darum, mit Dr. Seiler allein sprechen zu dürfen.

Sie saßen im Behandlungszimmer. Lumo lag still neben ihr.

„Wenn Lumo die Operation bekommt, wird er wieder rennen können?“

„Nicht wie früher. Aber ohne Schmerzen. Und vielleicht sogar ohne Hinken.“

„Und wenn ich die Therapie nicht mache?“

Dr. Seiler zögerte.

„Dann wirst du mit sehr viel Übung kleine Strecken gehen können. Vielleicht mit Gehhilfe. Vielleicht mit Stock. Aber es wird schwer bleiben.“

Luisa atmete tief ein.

„Dann soll Lumo operiert werden.“


Jan war sprachlos, als er davon erfuhr.

„Bist du dir sicher?“

„Er hat sein Leben für ein Kind riskiert. Und dann hat er mir gezeigt, dass ich wieder leben kann. Das ist… mehr als Beine.“

Er schwieg.

Dann beugte er sich vor, nahm ihre Hände in seine.

„Du bist stärker, als ich je war, Luisa.“


Die Operation wurde eine Woche später angesetzt. Luisa durfte Lumo bis zur OP begleiten. Sie schrieb ihm einen Brief. Mit dicken Buchstaben und kleinen Zeichnungen. Sie steckte ihn in seinen Korb, direkt unter seine Schnauze.

Du hast das Feuer besiegt. Du schaffst auch das hier. Ich warte auf dich. Und ich trainiere, während du schläfst.


Die Stunden im Wartezimmer waren unerträglich. Luisa zeichnete. Ein Feld. Zwei Spuren. Eine große, eine kleinere. Beide führten in die Sonne.

Dann endlich kam Dr. Seiler.

„Er lebt. Die OP war erfolgreich. Jetzt braucht er Ruhe.“

Luisa lächelte zum ersten Mal an diesem Tag.

„Ich auch.“


In den nächsten Wochen begann sie ein eigenes Trainingsprogramm. Ohne Roboter. Ohne Hightech. Nur sie, Herr Klee, ihre Muskeln – und ein Ziel.

Zuerst standen nur zehn Schritte auf dem Plan. Dann fünfzehn. Dann eine Minute freies Stehen.

Es war hart. Schweiß tropfte ihr in die Augen. Die Knie versagten oft. Aber jedes Mal, wenn sie dachte, es geht nicht mehr, hörte sie in ihrem Kopf Lumos Schritte. Sein leises Schnaufen. Sein Blick.

Er war nicht da, aber in ihr.


Am Tag, als Lumo zurückkam, lag der erste Schnee auf dem Gras.

Er humpelte leicht, noch mit Verband. Aber er trat vorsichtig auf. Und als er Luisa sah, winselte er leise, schnüffelte an ihren Händen und ließ sich dann schwer in ihre Arme sinken.

Sie flüsterte:

„Ich habe geübt. Für uns beide.“

Und dann standen sie einfach nur da. Kein Ziel. Kein Druck. Nur ein Moment, in dem alles wieder gut war.


Doch draußen wartete schon der nächste Schritt, einer, den keiner von beiden allein gehen konnte.

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