Luisa läuft wieder | Sie konnte nicht mehr laufen. Doch ein verletzter Hund zeigte ihr, wie man wieder aufsteht

🐾 Teil 6: Ein Tag im Schnee, ein Moment im Stehen

Der Schnee fiel leise, als wäre er sich seiner Bedeutung bewusst. Große Flocken legten sich über die Bänke, die Bäume, das Dach des Rehazentrums. Es war der erste Advent, und die Kinder bastelten drinnen Schneeflocken aus Papier, die Fenster waren mit bunten Sternen beklebt.

Luisa saß am Fenster und beobachtete die weiße Welt draußen. Neben ihr lag Lumo, der noch immer den Verband am Bein trug, aber täglich kräftiger wurde. Er hob den Kopf, sobald sie sich bewegte, als würde er jeden Muskelzittern spüren.

„Ich will mit ihm raus“, sagte sie.

Frau Witting, die gerade eine Thermoskanne auf dem Tisch abstellte, sah auf.

„Es ist kalt draußen.“

„Ich weiß.“

„Und glatt.“

„Ich weiß auch das.“

Sie sagte es nicht trotzig. Eher leise. Wie jemand, der etwas nicht zum ersten Mal spürt, sondern zum ersten Mal annimmt.


Am Nachmittag half ihr Herr Klee in die dicke Jacke. Ihre Beine wurden mit zwei zusätzlichen Lagen eingepackt, damit die Kälte nicht zu sehr in die Gelenke kroch. Lumo trug ein rotes Halstuch und schien genauso aufgeregt wie sie. Als die Tür sich öffnete und der kalte Wind hereinblies, hielt Luisa kurz inne.

„Bist du bereit?“, fragte Herr Klee.

Sie sah Lumo an, der bereits einen Schritt in den Schnee gemacht hatte. Seine Pfoten hinterließen unregelmäßige Abdrücke.

„Wenn er kann, kann ich auch.“


Draußen war alles still. Nur das Knirschen des Schnees unter ihren Schritten war zu hören. Lumo ging voran, seine Bewegungen vorsichtig, aber zielgerichtet. Luisa folgte mit der Gehhilfe. Jeder Schritt war eine kleine Entscheidung.

Links. Rechts. Halt. Atmen.

Nach zehn Metern blieb sie stehen.

„Alles gut?“, rief Herr Klee aus sicherer Entfernung.

Sie nickte. Doch ihre Finger zitterten.

Lumo drehte sich um, kam zu ihr zurück und legte seine Schnauze an ihr Knie.

„Wir ruhen uns kurz aus, ja?“, flüsterte sie.


Auf einer Bank unter dem Apfelbaum, der nun kahl und schneebedeckt dastand, setzten sie sich. Lumo sprang mit Mühe auf die Bank und legte den Kopf in Luisas Schoß. Sie sah ihm in die Augen.

„Ich wollte immer mal im Schnee rennen.“

Lumo blinzelte.

„Nicht heute. Aber irgendwann. Und dann machen wir ein Wettrennen, du und ich.“


Am Abend bekam sie wieder Schmerzen. Nicht schlimm. Eher wie ein Echo des Mutes, den sie gebraucht hatte. Der Rücken brannte, die Oberschenkel zogen. Sie wusste, es würde so kommen.

Aber es war ein ehrlicher Schmerz. Einer, den sie selbst gewählt hatte.

In der Nacht träumte sie von Lumo. Sie liefen durch ein riesiges Feld, ganz in Weiß. Und niemand konnte sie aufhalten.


In den Tagen vor Weihnachten gab es Rückschläge. Luisas Beine wollten plötzlich nicht mehr so, wie sie es wollte. Die Muskeln schienen müder als sonst. Und Lumo bellte eines Morgens vor Schmerz, als er auftrat.

„Überlastung“, sagte Dr. Seiler. „Nichts Schlimmes, aber er braucht eine Pause.“

Luisa wollte es nicht hören.

„Aber wir haben doch Fortschritte gemacht.“

„Manchmal macht man auch Fortschritt, wenn man stehen bleibt“, antwortete Frau Witting ruhig.


Am 20. Dezember fiel der erste Eisregen.

Die Fenster des Therapieraums waren beschlagen. Luisa saß auf der Bank und starrte hinaus. Sie hatte die Gehhilfe heute stehen lassen. Alles fühlte sich schwer an.

Dann trat Lumo zu ihr. Langsam, mit einem Spielzeug im Maul, ein alter Stoffigel, abgeliebt und angenagt. Er ließ ihn vor ihre Füße fallen.

„Du willst spielen? Heute?“, fragte sie müde.

Lumo stupste das Tier an. Dann nochmal. Schließlich bellte er einmal, ganz leise.

„Du gibst auch nicht auf, was?“

Sie hob den Igel auf und warf ihn ein kleines Stück. Lumo hinkte hinterher, brachte ihn zurück. Immer wieder.

Nach dem dritten Wurf stand Luisa auf. Ohne es zu merken. Ohne nachzudenken.


„Was hast du gerade getan?“, fragte Herr Klee von der Tür.

Sie sah an sich hinunter. Ihre Hände hingen an den Seiten. Keine Gehhilfe. Kein Halt.

„Ich… ich stand einfach.“

„Und du hast es nicht mal bemerkt.“

Lumo bellte leise, als hätte er es gewusst.


Am Heiligabend war der Therapieraum festlich geschmückt. Lichterketten, Zimtduft, ein kleiner Weihnachtsbaum mit selbst gebasteltem Schmuck. Die Kinder sangen. Einige saßen im Kreis, andere lagen auf Matten.

Luisa war müde, aber glücklich.

Ihr Vater saß neben ihr, trank heißen Kakao.

„Du bist weit gekommen“, sagte er leise.

„Noch nicht weit genug.“

„Doch“, sagte er. „Du hast angefangen zu laufen und das ist der schwerste Teil.“

Sie dachte nach.

„Ich glaube, Lumo hat das zuerst gemacht. In meinem Herzen.“


Als sie ins Zimmer zurückkamen, lag ein kleines Geschenk auf dem Bett. In Packpapier eingewickelt, mit einer roten Schleife. Kein Absender.

Sie öffnete es vorsichtig.

Darin lag eine selbstgenähte Mütze. Und ein kleiner Zettel.

Für dein nächstes Ziel. Die Welt da draußen wartet.

Luisa drehte den Zettel um. Hinten war ein Abdruck, eine Hundepfote, in Stempelfarbe.

Sie legte die Mütze auf ihr Kopfkissen, dann nahm sie Lumo sanft in den Arm.

„Wir sind noch nicht fertig, du und ich.“


Und als die Glocke zur Mitternachtsmesse läutete, wusste sie plötzlich, wohin der nächste Schritt führen musste.

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