🐾 Teil 7: Der Hügel, der alles beweist
Die Glocke der kleinen Kapelle hatte sanft geläutet, wie ein Herzschlag in der Stille. Es war Heiligabend, kurz nach Mitternacht. Die meisten Kinder schliefen, nur vereinzelt brannte noch Licht hinter den Fensterscheiben des Rehazentrums.
Luisa saß auf dem Bett, die neue Mütze auf dem Kopf. In der Hand hielt sie die Karte mit der Hundepfote. Draußen fiel Schnee, leise und gleichmäßig, wie das Ticken einer alten Standuhr.
Lumo lag zu ihren Füßen. Er atmete ruhig. Sein Verband war endlich ab, das Fell war an der Stelle etwas dünner, aber das Bein trug wieder sein Gewicht. Wenn er ging, hinkte er kaum noch.
„Weißt du, was ich will?“, flüsterte sie.
Lumo hob den Kopf.
„Ich will auf diesen Hügel da draußen. Den, den man vom Fenster aus sieht.“
Es war der höchste Punkt im Klinikgelände, etwa zweihundert Meter entfernt. Kein Weg, nur Wiese, jetzt bedeckt mit Schnee.
„Ganz nach oben. Mit dir. Im neuen Jahr.“
Am nächsten Morgen sagte sie es ihrem Vater. Und auch Frau Witting. Und Herr Klee.
„Das ist ein weiter Weg“, meinte Klee.
„Ich weiß.“
„Und anstrengend.“
„Ich weiß auch das.“
Sie sprach ruhig. Klar. Ohne Trotz. Aber mit einer Entschlossenheit, die sie selbst erstaunte.
„Ich werde trainieren. Jeden Tag.“
Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr waren still. Das Zentrum wirkte leerer. Manche Kinder waren bei ihren Familien, andere noch zu schwach für den Winter.
Luisa stand jeden Morgen auf, bevor das Frühstück begann. Sie ging mit der Gehhilfe durch den Flur, die Treppe hinunter, hinaus in den Hof. Lumo wartete immer schon.
Gemeinsam umrundeten sie das Gelände. Schritt für Schritt. Bei Schnee, bei Wind, manchmal sogar bei Regen.
Herr Klee gab ihr eine Karte mit einem kleinen Plan. Jeden Tag markierte sie die zurückgelegte Strecke mit einem grünen Punkt.
Zehn Punkte für den Hof. Zwanzig für die Apfelbaumrunde. Dreißig, wenn sie bis zum Spielplatz kam.
An Silvester hatte sie siebzig gesammelt.
Um Mitternacht saßen sie draußen auf der Bank, eingehüllt in Decken. Im Dorf unterhalb des Hügels stiegen Raketen auf. Gold, Blau, Rot.
„Ich habe Angst vor dem Hügel“, gab Luisa zu.
Jan legte den Arm um sie.
„Weißt du, was Mut ist?“, fragte er.
„Etwas tun, obwohl man Angst hat?“
„Genau das.“
Lumo hob den Kopf, als das Feuerwerk besonders laut wurde, bellte einmal, dann legte er sich wieder hin. Unbeeindruckt.
Am 2. Januar begann die letzte Etappe.
Luisa stand am Fenster und sah auf den Hügel.
„Noch zwei Wochen. Dann will ich da oben stehen.“
Frau Witting plante eine besondere Therapie. Jeden Tag eine neue Steigung. Ein neuer Untergrund. Unfeste Erde, kleine Hindernisse, glatte Steine.
Luisa kämpfte. Ihre Beine zitterten oft. Der Atem wurde kurz, der Rücken schmerzte. Aber sie sagte kein Wort der Klage.
Nur einmal, als sie stürzte und sich das Knie aufschürfte, schlug sie mit der Faust in den Boden.
Lumo stellte sich neben sie. Starr. Wartend.
Luisa hob sich selbst hoch. Allein.
„Danke, dass du mir nicht hilfst“, sagte sie mit Tränen in den Augen.
Eine Woche vor dem geplanten Tag fiel starker Schneeregen. Der Hang wurde rutschig. Der Arzt riet, den Versuch zu verschieben.
„Wenn sie fällt, ist alles wieder offen“, sagte er zu Jan.
Luisa hörte es mit. In der Nacht sprach sie mit Lumo.
„Wenn ich nicht darf, gehen wir heimlich.“
Aber sie wusste, dass das nicht der Weg war. Nicht mehr. Nicht seit sie gelernt hatte, dass Stärke auch in Geduld lag.
Am nächsten Morgen stand sie dennoch auf, zog sich an, stellte sich an die Tür und wartete.
„Ich bin bereit. Wann auch immer ihr es seid.“
Am Freitag, dem 12. Januar, war der Himmel klar. Kalt, aber still. Kein Wind, kein Schnee. Nur gefrorenes Gras und Sonnenlicht, das wie flüssiges Glas über das Gelände rann.
Luisa stand mit Lumo am Fuß des Hügels.
Sie trug ihre Mütze, feste Stiefel, ihre Jacke mit den Reflektoren. In der Tasche: ein kleines Foto von ihrer Mutter. Und der Brief von Emil.
Der erste Teil des Weges war einfach. Eine gerade Linie, leicht ansteigend. Sie schaffte ihn in zehn Minuten. Ohne Pause.
Dann kam der Mittelteil. Uneben, mit Spurrillen und gefrorenem Matsch.
Sie rutschte. Einmal, zweimal. Fang sich mit der Gehhilfe.
Lumo lief immer in ihrer Nähe. Nicht vor ihr, nicht hinter ihr. Neben ihr.
Die letzten zwanzig Meter waren die schwersten. Steil. Kein richtiger Pfad. Nur Wiese, die vom Frost hart war wie Glas.
Herr Klee rief von unten: „Du musst nicht alles heute schaffen!“
Aber sie hörte nicht mehr. Ihr Atem war laut. Die Beine brannten. In ihrem Kopf nur ein Gedanke:
Wenn ich jetzt aufgebe, war alles umsonst.
Lumo ging nun vor. Kein Drängen. Kein Bellen. Nur Präsenz.
Luisa stieg.
Und plötzlich war da nichts mehr vor ihr. Kein Hang. Kein Ziel. Nur der Horizont.
Sie stand auf dem Hügel.
Allein. Ohne Hilfe.
Lumo setzte sich neben sie.
„Mama“, flüsterte sie, „ich bin oben.“
Dann nahm sie das Foto, stellte es in eine kleine Schneevertiefung, neben einen Stein. Steckte den Brief von Emil dazu. Und legte ihren Anhänger mit dem Satz:
Wir laufen zusammen.
Der Wind trug ihre Worte fort. Und mit ihnen einen Teil von ihr, den sie nicht mehr brauchte.
Als sie zurückkam, klatschten die Pflegekräfte. Herr Klee weinte leise. Jan stand da, die Hände tief in den Taschen, und lächelte nur.
„Ich wusste, du kannst es. Ich wusste es immer.“
Doch kaum war sie unten angekommen, wartete ein Brief und eine Entscheidung, die alles verändern konnte.