🐾 Teil 8: Darf ein Herz adoptiert werden?
Der Brief lag auf dem Bett, als sie zurückkam. In schlichtem Umschlag, mit dem Logo des Rehazentrums in der Ecke. Kein Absender. Nur ihr Name „Luisa Bertram“ in sauberer Handschrift.
Sie setzte sich vorsichtig, noch außer Atem vom Aufstieg auf den Hügel. Ihre Finger zitterten leicht, als sie den Umschlag öffnete.
Drinnen war ein kurzer, offizieller Text.
Sehr geehrte Familie Bertram,
nach ärztlicher Einschätzung und erfolgreichem Abschluss des therapeutischen Kernprogramms freuen wir uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Luisa Bertram in zwei Wochen entlassen werden kann.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Reichel, Leitung Reha Sonnenhöhe
Zwei Wochen.
Luisa starrte auf das Papier. Das war es also. Die Belohnung. Die Rückkehr ins Leben.
Aber sie fühlte keine Freude.
Denn ein Gedanke kam sofort.
Was ist mit Lumo?
Sie ging noch am selben Tag zu Frau Witting.
„Ich hab den Brief bekommen.“
„Ja. Und wir sind alle stolz auf dich.“
„Was ist mit Lumo?“
Die Therapeutin schwieg einen Moment.
„Er gehört dem Zentrum, Luisa. Er ist Teil des Programms für tiergestützte Therapie. Offiziell ist er noch im Einsatz.“
„Aber er war mein Freund. Mein… Begleiter.“
„Ich weiß.“
Luisa spürte, wie ihr die Kehle eng wurde.
„Er kann nicht hier bleiben.“
Frau Witting legte ihr sanft die Hand auf die Schulter.
„Es gibt andere Kinder, die ihn brauchen.“
Am Abend saß sie allein auf der Bank unter dem Apfelbaum. Lumo hatte sich zu ihren Füßen eingerollt, seine Schnauze im Fell verborgen. Sie sah in den Himmel, der sich langsam verdunkelte, während das erste Licht im Dorf anging.
„Du gehörst nicht in ein Programm“, sagte sie leise.
„Du gehörst… zu mir.“
Lumo rührte sich nicht. Aber sie wusste, er hörte zu.
Jan reagierte ruhig, als sie ihm davon erzählte.
„Es ist nicht einfach, Tiere aus solchen Einrichtungen zu adoptieren“, erklärte er.
„Aber möglich?“
Er sah sie lange an.
„Vielleicht.“
„Dann will ich es versuchen.“
Am nächsten Tag sprach sie mit Dr. Seiler, mit der Verwaltung, mit jedem, der zuhören wollte. Sie erklärte, wie Lumo ihr geholfen hatte. Wie sie ohne ihn nie so weit gekommen wäre. Wie sie weiter üben wolle mit ihm.
Sie schrieb einen Brief. Mit ihrer Handschrift. Drei Seiten.
Und sie wartete.
Am Freitag rief man sie ins Büro der Klinikleitung. Dr. Reichel saß dort, die Hände gefaltet. Auch Dr. Seiler war da, und Frau Witting. Jan hatte neben der Tür Platz genommen.
„Wir haben deinen Antrag geprüft“, begann Reichel freundlich.
„Und?“
„Du hast uns sehr berührt.“
Luisa atmete flach.
„Aber… Lumo ist nicht irgendein Tier. Er wurde mit öffentlicher Förderung ausgebildet. Er steht auf einer Liste, zusammen mit anderen Therapiehunden. Es ist nicht vorgesehen, dass ein einzelnes Kind ihn mitnimmt.“
„Er ist kein Gerät!“, platzte es aus Luisa heraus.
Stille.
Dann beugte sich Dr. Seiler leicht nach vorn.
„Es gäbe eine Möglichkeit.“
Alle blickten ihn an.
„Wenn das Zentrum zustimmt und wenn du einen symbolischen Beitrag leistest, vielleicht ein Projekt, das anderen Kindern erklärt, was Lumo für dich war, dann könnten wir eine Ausnahme prüfen.“
Luisa nickte sofort.
„Ich erzähle seine Geschichte. Unsere Geschichte.“
„In welcher Form?“
Sie dachte kurz nach.
„Ich schreibe ein kleines Buch. Mit Zeichnungen. Zum Vorlesen. Für Kinder, die hier neu anfangen.“
Dr. Reichel lächelte.
„Das ist ein schönes Angebot.“
Sie begann noch in derselben Nacht. Auf ihrem kleinen Schreibtisch lag ein Notizbuch, das sie noch nie benutzt hatte. Seite für Seite füllte sie es mit Erinnerungen.
Wie sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Wie er sein verletztes Bein nachzog. Wie sie beide sich vorsichtig einander näherten.
Sie zeichnete. Lumo im Schnee. Lumo neben dem Rollstuhl. Lumo mit dem Stoffigel im Maul.
Sie nannte es:
„Lumo und Luisa: Zwei Herzen, ein Weg“
In den nächsten Tagen schrieb sie jeden Abend weiter. Ihr Vater half beim Binden der Seiten. Frau Witting besorgte bunte Stifte. Die Erzieher druckten Kopien aus. Einige Kinder begannen, das Buch zu lesen.
Ein Junge, der neu angekommen war und nicht sprach, zeigte nach der Lektüre auf den Flur und sagte:
„Hund.“
Es war sein erstes Wort.
Am vorletzten Tag vor der Entlassung wurde eine kleine Abschiedsfeier geplant. Im Hof. Mit Tee, Gebäck, einer Gitarre.
Luisa hatte Lumo einen neuen Anhänger gebastelt. Darauf stand nur ein Wort:
Zuhause
Während des Festes trat Dr. Reichel vor die Gruppe.
„Heute feiern wir nicht nur Luisas Genesung, sondern auch etwas Besonderes.“
Sie hob das Buch hoch.
„Luisa hat uns eine Geschichte hinterlassen. Und eine Erinnerung daran, dass Heilung nicht immer nur aus Medikamenten und Übungen besteht.“
Dann wandte sie sich direkt an das Mädchen.
„Und ja, du darfst ihn mitnehmen.“
Der Hof wurde still.
Luisa stand auf. Ohne Gehhilfe. Ihre Beine zitterten. Aber sie ging.
Geradewegs zu Lumo. Sie kniete sich hin, nahm sein Gesicht in beide Hände.
„Wir gehen heim.“
Aber zuhause wartete etwas, das sie sich nicht zurückgewünscht hatte und dem sie sich nun stellen musste.