🐾 Teil 9: Zurück im Dorf, zurück im Leben
Der Wind roch nach Holzrauch, als sie die kleine Dorfstraße hinabrollten. Ihr Vater fuhr langsam, sehr langsam, fast ehrfürchtig. Auf dem Rücksitz saß Lumo, der Kopf ruhte auf Luisas Oberschenkel. Sie streichelte ihn, ohne hinzusehen. Ihre Augen klebten am Fenster.
Alles war noch da.
Der Metzgerladen mit dem schiefen Schild. Die alte Esche vor der Bushaltestelle. Das Haus mit den grünen Fensterläden, wo ihre Mutter früher jeden Donnerstag Eier gekauft hatte.
Nichts hatte sich verändert. Aber alles fühlte sich anders an.
Als der Wagen vor dem alten Fachwerkhaus hielt, stieg Jan aus, ging zur Beifahrertür und öffnete sie vorsichtig. Luisa zögerte.
„Willst du nicht?“, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
„Doch. Ich will nur nicht, dass es vorbei ist.“
„Was meinst du?“
„Das da oben. Der Hügel. Das Gefühl, dass alles neu ist.“
Jan lächelte müde.
„Vielleicht beginnt genau das jetzt erst.“
Das Haus roch nach Möbelpolitur und leichten Staub. Seit Monaten hatte niemand dort gewohnt. Auf dem Esstisch lag noch der bunte Schal, den ihre Mutter im Frühjahr angefangen hatte zu stricken.
Lumo tapste langsam durch die Räume, schnupperte an jedem Türrahmen, legte sich schließlich vor dem Kamin nieder, als hätte er gewusst, dass das sein Platz war.
Luisa ging von Zimmer zu Zimmer. Ihre Schritte waren wackelig. Aber sie ging. Ohne Gehhilfe. Nur mit Hand an der Wand.
Im Kinderzimmer blieb sie stehen. Ihr Bett war frisch bezogen, die Plüschtiere standen aufgereiht wie früher. Auf dem Regal lag ein eingerahmtes Foto. Ihre Mutter, lachend, mit beiden Armen um sie und Jan geschlungen.
Luisa nahm das Bild in die Hand.
„Ich bin zurück, Mama.“
Die ersten Tage waren schwerer als erwartet. Nicht wegen der Beine. Sondern wegen der Leere.
Im Rehazentrum war immer jemand da gewesen. Geräusche. Stimmen. Lachen. Jetzt war es still. Jan arbeitete wieder in der Werkstatt, und wenn er abends nach Hause kam, war er müde. Gutmütig, aber still.
Luisa übte täglich im Hof. Rauf zur Apfelwiese, dann zurück. Mit Lumo an der Seite.
Einmal fiel sie. Nicht schwer. Aber genug, um kurz zu schreien.
Niemand kam.
Sie setzte sich auf, schob Lumo weg, der aufgeregt bellte, und sagte laut:
„Ich schaff das schon!“
Und sie schaffte es.
Nach einer Woche stand der erste Schultag an.
Luisa hatte Bauchschmerzen. Nicht vor Angst. Sondern vor Erwartung. Vor der Frage: Wer wird mich sehen? Wer wird mich auslachen?
Sie trug ihre Lieblingsjacke und einen kleinen Rucksack. Lumo durfte mit. Als „therapeutischer Begleithund mit besonderer Genehmigung“. Sie hatte das Schreiben immer wieder gelesen, als müsste sie sich selbst davon überzeugen.
Als sie den Schulhof betrat, verstummten die Gespräche.
Luisa ging langsam. Schritt für Schritt. Neben ihr Lumo, wachsam und still.
Dann rief jemand:
„Guck mal, die Luisa läuft wieder!“
Sie hob den Kopf. Da stand Clara, ihre alte Sitznachbarin. Neben ihr Leon und Jakob.
Niemand lachte.
Im Gegenteil: Sie kamen näher.
„Ist das dein Hund?“, fragte Jakob.
Luisa nickte.
„Sein Name ist Lumo.“
„Darf man ihn streicheln?“
Sie überlegte kurz. Dann:
„Nur wenn er es erlaubt.“
Jakob kniete sich vorsichtig hin. Lumo stupste seine Hand an.
Und dann war der Bann gebrochen.
Im Unterricht war es still. Jeder war höflich, aber Luisa spürte die Blicke. Neugier, manchmal Mitleid. Doch sie ließ sich nicht beirren. Sie beantwortete Fragen, lachte einmal sogar über einen Witz des Lehrers.
In der Pause saß sie mit Clara auf der Bank. Lumo lag zu ihren Füßen, döste.
„Es war komisch, als du plötzlich weg warst“, sagte Clara.
„Für mich war’s auch komisch.“
„Und jetzt?“
„Jetzt ist es ein bisschen, als wäre ich zurück, aber nicht dieselbe.“
Clara nickte.
„Ich glaube, das ist gut so.“
Zuhause holte sie am Abend ihr Notizbuch hervor. Das, in dem sie über Lumo und sich geschrieben hatte. Sie schlug eine neue Seite auf.
Wieder zuhause. Nicht alles ist leicht. Aber Lumo schläft schnarchend auf meinem Fuß. Das reicht für heute.
Dann zeichnete sie das Haus. Und daneben: einen kleinen Hügel.
Am Samstag besuchte sie das Grab ihrer Mutter. Jan hatte den Stein neu säubern lassen, frische Blumen standen in der Vase.
Luisa kniete sich nieder. Langsam, vorsichtig. Lumo blieb ein paar Schritte entfernt stehen, als hätte er verstanden, dass dies nicht sein Moment war.
„Ich hab’s geschafft, Mama.“
Sie schwieg eine Weile.
„Nicht nur das Laufen. Auch das Weiterleben.“
Ihre Finger strichen über den Namen im Stein.
„Ich hoffe, du wärst stolz.“
Als sie aufstand, wehte ein Windhauch über das Grab. Ein einzelnes Blatt löste sich vom Baum dahinter, drehte sich im Bogen und landete auf Luisas Schulter.
Sie hob es auf, betrachtete es.
„Ich weiß.“
In der Woche darauf war Elternabend.
Jan ging allein. Luisa blieb mit Lumo zuhause, legte eine Decke auf den Boden und las ihm vor. Ein altes Märchen, das ihre Mutter früher gern erzählt hatte.
Mitten in der Geschichte sah Lumo auf. Lauschte.
Dann klopfte es an der Tür.
Luisa stand auf. Ohne Stütze. Öffnete.
Vor ihr stand ein Mädchen. Klein, zierlich. Ein Verband um das rechte Bein.
„Bist du Luisa?“
„Ja.“
„Ich heiße Mila. Ich… Ich fang nächste Woche auch mit Reha an. Und jemand hat mir dein Buch gegeben.“
Luisa lächelte.
„Willst du Lumo kennenlernen?“
Und während Lumo vorsichtig zu Mila ging, wusste Luisa plötzlich, dass ihre Geschichte gerade erst begann.