Luisa läuft wieder | Sie konnte nicht mehr laufen. Doch ein verletzter Hund zeigte ihr, wie man wieder aufsteht

🐾 Teil 10: Und wenn ein Kind den Hof betritt

Die Wintersonne stand tief über den Hügeln. Ihr Licht war weich, fast wie der Blick eines alten Freundes. In Luisas Zimmer roch es nach Tee mit Honig und nach Buchseiten, die oft umgeblättert worden waren.

Mila saß auf einem Kissen, ihre Beine ausgestreckt, der Verband leicht verrutscht. Neben ihr lag Lumo, der Kopf auf ihrem Oberschenkel, schnaufend im Halbschlaf.

„Er mag dich“, sagte Luisa.

„Ich hab noch nie einen Hund gehabt“, flüsterte Mila.

„Dann ist er ein guter Anfang.“

Mila drehte sich zu ihr.

„Du hast gesagt, du konntest auch nicht laufen. Aber jetzt gehst du zur Schule.“

Luisa nickte.

„Es war schwer. Manchmal hab ich gehasst, was mein Körper nicht konnte.“

„Und jetzt?“

„Jetzt vertraue ich ihm. Und Lumo. Ich glaub, das ist das Wichtigste.“

Mila lächelte. Ganz leicht.


Zwei Wochen später kehrte Luisa zurück ins Rehazentrum, aber nicht als Patientin. Sie wurde eingeladen, ihr Buch „Lumo und Luisa: Zwei Herzen, ein Weg“ vor den neuen Kindern vorzulesen. Die Erzieher hatten es gebunden, mit festem Einband, sogar mit einem kleinen Vorwort von Dr. Reichel.

Als sie den Gruppenraum betrat, wurde es still. Die meisten Kinder waren jünger als sie. Einige lagen in Betten, andere saßen mit starren Blicken in Rollstühlen.

Luisa stand vorn, das Buch in der Hand. Lumo saß neben ihr, brav und aufmerksam.

„Ich möchte euch etwas erzählen“, begann sie.

Ihre Stimme war ruhig. Nicht laut. Aber sie hatte Gewicht.

„Ich war wie ihr. Ich dachte, es geht nicht mehr weiter. Ich hab meinen Körper nicht mehr gespürt. Und mein Herz war auch ein bisschen kaputt.“

Ein Junge hob den Kopf. Ein Mädchen schob sich die Decke vom Gesicht.

„Aber dann kam Lumo. Und wir sind zusammen gelaufen. Erst in Gedanken. Dann wirklich.“

Sie las die Geschichte. Seite für Seite. Lachte an vertrauten Stellen. Schluckte an anderen.

Und am Ende sagte sie:

„Ihr müsst nicht alles sofort schaffen. Ihr müsst nur jemanden finden, der bei euch bleibt.“


Die Kinder durften danach Fragen stellen.

„Schläft Lumo im Bett?“, fragte ein Junge.

„Ja. Meistens quer.“

„Hat er Angst vor Staubsaugern?“

„Mehr vor Gemüse.“

„Wirst du wiederkommen?“, fragte Mila leise.

Luisa sah sie an.

„Wenn ihr wollt – ja.“


Die Zeit verging. Lumo wurde älter, aber ruhiger, weiser. Er begleitete Luisa zur Schule, zum Einkaufen, auf Spaziergängen durch die Felder.

Manchmal hielten Leute an, erkannten den Hund aus dem Buch. Fragten, ob sie die Luisa seien. Sie nickte dann. Und Lumo bekam ein Leckerli.

Im Frühling begann sie zu schreiben. Nicht nur über Lumo. Über andere Kinder. Andere Tiere. Geschichten, die aus dem Stillen kamen.

Sie wurde eingeladen, in Bibliotheken zu lesen. In Schulen. Sogar im Radio sprach sie einmal.

Aber am liebsten saß sie in ihrem alten Kinderzimmer, mit Blick auf den Apfelbaum, und schrieb für sich.


Ein Jahr später, am gleichen Tag, an dem sie damals den Hügel bestiegen hatte, stiegen sie erneut hinauf. Diesmal ohne Gehhilfe. Nur mit festen Schuhen und einem Herz voller Ruhe.

Oben angekommen legte sie etwas auf den Stein, unter dem noch immer die kleine Zeichnung lag.

Ein neues Foto. Von Mila. Mit Bandagen, aber lachend. Und Lumo an ihrer Seite.

Sie sprach leise.

„Du hast nicht nur mir geholfen.“

Dann setzte sie sich. Lumo legte sich zu ihren Füßen. Sein Gesicht war grauer geworden. Die Bewegungen langsamer. Aber sein Blick war der gleiche geblieben.


Am Abend schrieb sie in ihr Notizbuch.

Ich dachte immer, Laufen sei das Ziel. Aber vielleicht war es das Zuhören. Das Bleiben. Das gemeinsam Aushalten.

Sie legte den Stift weg, drehte sich zum Fenster, wo der Mond wie eine weiße Feder am Himmel hing.

Ihr Vater rief sie zum Essen.

„Bin gleich da.“

Sie sah zu Lumo, der schlief. Ganz ruhig. Ganz sicher.


Einige Wochen später kam ein Brief.

Von der Klinik.

Liebe Luisa,
wir planen eine neue Einheit für tiergestützte Therapie. Möchtest du uns helfen, sie aufzubauen? Dein Buch hat so viel bewegt. Deine Erfahrung auch. Du würdest andere Kinder begleiten, vielleicht mit einem neuen Hund. Oder auch nur mit deinen Worten.

Herzliche Grüße
Frau Witting

Luisa legte den Brief auf den Schreibtisch. Dann ging sie ins Wohnzimmer, wo Lumo in seinem Korb lag. Sie kniete sich neben ihn, strich ihm über die Stirn.

„Noch ein Abenteuer?“

Lumo öffnete ein Auge. Blinzelte. Und seufzte zufrieden.


Ein halbes Jahr später, bei der Eröffnung der neuen Station, schnitt Luisa feierlich das Band durch. Neben ihr: Lumo mit einem neuen Halstuch. Rot mit weißen Punkten. Wie früher.

Sie hielt eine kleine Rede.

„Was heilt, ist nicht immer sichtbar. Und nicht immer laut. Manchmal ist es einfach jemand, der bleibt, wenn alles andere geht.“

Applaus. Tränen. Lächeln.

Und mitten in all dem: ein Hund, der nie weggelaufen war.


Und jedes Mal, wenn ein Kind im Rollstuhl den Hof betrat, wartete dort ein Hund, mit einer alten Narbe und einem Herzen, das nie aufgehört hatte, mitzugehen.

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