In den nächsten Tagen kamen Nachrichten. Viele. Erst wütend, dann fordernd, dann wieder wütend. Maren schrieb, ich sei „kindisch“. Sie schrieb, ich würde „eine Familie zerstören“. Sie schrieb, ich solle „aufhören, ein Drama zu machen“.
Ich antwortete nicht. Nicht aus Trotz. Aus Schutz.
Ich ging laufen. Ich ging in die Garage. Ich arbeitete. Ich hielt mich an Dinge, die ehrlich waren: Holz, Luft, Bewegung. Und ich ging wieder ins Gemeindezentrum in den Werkraum. Jugendliche saßen an Werkbänken, stritten und lachten, versuchten, Nägel gerade einzuschlagen und staunten, wenn es klappte.
Niemand fragte mich nach Geld.
Sie fragten mich, wie man misst. Wie man sägt. Wie man ruhig bleibt, wenn etwas schiefgeht.
Es tat mir gut. Es tat mir fast weh, wie gut es tat.
Dann, eines Abends, stand Fabian vor meiner Tür.
Er hatte einen kleinen Rucksack auf dem Rücken. Seine Augen waren rot. Hinter ihm stand Daniel, hager, ungepflegt, als hätte ihn das Leben in wenigen Wochen um Jahre gealtert.
„Papa“, sagte Daniel ohne Begrüßung. „Ich brauche Hilfe. Nur für heute Nacht.“
Fabian schniefte. „Opa…“
Ich ging in die Hocke, nahm ihn in den Arm. Er roch nach Shampoo und nach dem bitteren Geruch von Stress, den Kinder an sich tragen, wenn Erwachsene zu laut sind.
„Komm rein“, sagte ich leise.
Daniel drückte mir den Rucksack in die Hand, als wäre es eine Last, die er loswerden musste. „Maren und ich müssen reden. Ohne Fabian.“
Ich sagte nichts. Fabian war meine Priorität.
Daniel drehte sich um und ging. Keine Entschuldigung, kein Blick, nur Flucht.
Als die Tür zu war, stand Fabian im Flur und wischte sich die Nase am Ärmel ab.
„Willst du Kakao?“, fragte ich.
Er nickte.
In der Küche rührte ich Kakao, legte ihm eine Decke um die Schultern. Er saß am Tisch, genau an dem Ort, an dem ich vor Wochen begriffen hatte, wie tief es ging.
„Opa“, sagte er leise, „Mama und Papa schreien so viel.“
Ich setzte mich ihm gegenüber. „Das tut mir leid, mein Junge.“
Er starrte in die Tasse. „Ist das wegen dir?“
Da war sie, die Frage, die kein Kind stellen sollte. Aber Erwachsene schaffen es trotzdem, sie in Kinderköpfe zu legen.
„Es ist wegen Dingen, die Erwachsene falsch gemacht haben“, sagte ich vorsichtig. „Nicht wegen dir. Und nicht, weil du irgendetwas getan hast.“
Fabian hob den Blick. „Mama sagt, du bist böse.“
Mir wurde eng im Brustkorb. Ich atmete langsam.
„Manchmal sagen Menschen böse Dinge, wenn sie sich schämen“, sagte ich. „Oder wenn sie Angst haben.“
Fabian runzelte die Stirn. „Hast du Angst?“
Ich lächelte, so gut ich konnte. „Ich hatte Angst. Jetzt… weniger.“
Er trank einen Schluck. Seine Unterlippe zitterte. „Ich will nicht, dass ihr euch streitet.“
Ich legte meine Hand auf seine. „Wir streiten nicht, Fabian. Nicht du und ich.“
Er nickte, als müsste er es festhalten.
Später schlief er im Gästezimmer, das ich immer für ihn bereit gehalten hatte. Ich stand lange im Türrahmen und sah ihm beim Atmen zu. So klein. So verletzlich. Und trotzdem mitten in einem Kampf, den er nicht gewählt hatte.
Am Morgen machten wir Pfannkuchen. Wir bauten an einem kleinen Holzboot, das ich noch in einer Kiste hatte. Fabian wurde wieder Fabian. Für ein paar Stunden war die Welt einfacher.
Dann kam Daniel, um ihn abzuholen. Er sah mich an, kurz, fast flehend.
„Danke“, sagte er. Mehr nicht.
Fabian klammerte sich an meine Jacke. „Kann ich noch bleiben?“
Daniels Gesicht verhärtete sich. „Fabian. Komm.“
Fabian schaute mich an. Große Augen. Ich strich ihm über den Kopf.
„Heute nicht“, sagte ich leise. „Aber wir sehen uns wieder.“
Fabian nickte, als würde er mir glauben wollen. Er umarmte mich fest.
„Ich hab dich lieb“, flüsterte er.
„Ich dich auch“, sagte ich. „Mehr als du dir vorstellen kannst.“
Daniel nahm ihn an der Hand und ging.
Danach vergingen Wochen, in denen ich Fabian kaum sah. Jedes Mal gab es einen Grund: krank, verplant, unterwegs. Ich schrieb kurze, sachliche Nachrichten. Ich fragte nach Zeiten. Ich bekam Ausflüchte.
Jens half mir, ohne großes Aufheben. „Bleib ruhig“, sagte er nur. „Schreib sauber.“
Also schrieb ich sauber. Und ich hielt fest, was passierte. Nicht aus Rachsucht. Sondern, weil ich wusste: Wenn Erwachsene ihre Geschichten wechseln, braucht ein Kind wenigstens irgendwo einen festen Boden.
Die Monate zogen sich. Daniels und Marens Welt franste aus. Nicht mit einem Knall, sondern wie Stoff, der immer weiter reißt. Wohnung, Geld, Druck. Maren wütend auf alles. Daniel erschöpft von allem. Und Fabian dazwischen.
Dann kam irgendwann eine Entscheidung, sachlich, klar: feste Zeiten. Verbindlich. Nicht als Belohnung für mich, sondern als Schutz für Fabian.
Ich fühlte keinen Triumph, als ich es las. Eher Luft nach langem Tauchen.
Als wir aus dem Gebäude traten, holte Daniel mich im Flur ein.
„Papa“, sagte er, und seine Stimme brach, „können wir kurz reden?“
Von hinten kam Marens scharfe Stimme. Daniel zuckte zusammen, drehte sich kurz zu ihr, dann wieder zu mir.
„Nur eine Minute“, murmelte er.
Ich blieb stehen.
„Es tut mir leid“, sagte Daniel. „Ich weiß, das reicht nicht. Ich weiß, ich habe Dinge zugelassen. Ich habe mich klein gemacht, damit Maren nicht ausrastet. Und ich habe dich dabei groß gemacht zu… etwas, das du nicht bist.“
Ich schwieg.
Er rieb sich über das Gesicht. „Ich wollte so sehr, dass wir aussehen, als hätten wir es geschafft. Und dabei waren wir nur… gierig. Und feige.“
Mein Hals wurde eng. Nicht, weil ich ihm schon verzeihen konnte. Sondern, weil ich ihn wiedererkannte. Den Sohn, den ich großgezogen hatte. Den ich irgendwo verloren hatte.
„Was ist mit Maren?“, fragte ich.
Daniel atmete aus. „Sie sieht das anders. Für sie bist du der Grund, warum alles kaputt ist. Sie kann nicht ertragen, dass auch sie Verantwortung trägt.“
„Und du?“, fragte ich.
Sein Blick war müde. „Ich ertrage es gerade erst.“
Er schluckte. „Ich will nicht, dass Fabian dich verliert. Und… ich will dich vielleicht auch nicht verlieren.“
Ich sah ihn an. Und ich dachte an Helene. An das, was sie immer gesagt hatte: Man kann Menschen lieben und trotzdem Grenzen setzen.
„Du kannst es nicht wieder gutmachen, indem du mich um etwas bittest“, sagte ich ruhig. „Du kannst es nur wieder gutmachen, indem du anders wirst. Über Zeit.“
Daniel nickte, Tränen in den Augen. „Ich verstehe.“
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