Meine Frau glaubt, ich betrüge sie, dabei liebe ich nur das Grab meines Vaters

Meine Frau denkt, ich habe eine Geliebte. Sie hat recht. Aber meine „Geliebte“ ist ein kalter Grabstein auf dem Waldfriedhof in Stuttgart.

Ich heiße Kilian, bin 38 Jahre alt. Und seit ich 12 bin, besuche ich jeden Samstag um Punkt 9:00 Uhr meinen Vater.

Neun Uhr. Keine Minute später. Selbst bei Fieber. Selbst als der Schnee Stuttgart lahmlegte. Selbst an dem Morgen, als meine Tochter geboren wurde (ich rannte danach ins Krankenhaus, noch mit dem Geruch von nasser Erde an meinem Mantel).

Ich habe nie einen Samstag ausgelassen.

Mein Vater, Arno, war kein Held in den Geschichtsbüchern. Er war Maurer. Ein Mann mit Händen so rau wie Schmirgelpapier und einem Rücken, der immer leicht gekrümmt war, als würde er die Last der ganzen Welt tragen. Er starb an einem Dienstagnachmittag. Ein Arbeitsunfall auf einer Baustelle. Er hatte eine extra Schicht übernommen. „Nur noch diese Woche, Kilian“, hatte er am Abend zuvor gesagt. „Dann haben wir genug für die Ostsee. Du wirst das Meer sehen, Kleiner.“

Wir haben das Meer nie gesehen. Ich erinnere mich nur an meine Mutter auf dem Sofa, wie sie ins Leere starrte, und an das Gefühl, dass meine Kindheit in genau jener Sekunde endete.

Seit diesem Tag schwor ich mir: Ich vergesse nicht. Niemals. Deshalb gehe ich jeden Samstag hin. Aber ich gehe nicht nur, um Blumen niederzulegen. Ich gehe, um Bericht zu erstatten.

Ich bin heute Architekt. Ich entwerfe die Hochhäuser, die Männer wie mein Vater bauen müssen. Ich fahre einen teuren Audi, trage maßgeschneiderte Anzüge und lebe in einem Haus am Killesberg. Jeden Samstag stehe ich vor seinem Grab und erzähle ihm von meinen Erfolgen.

„Ich habe den Vertrag bekommen, Papa.“ „Ich habe das Haus abbezahlt.“ „Ich bin wer geworden.“ Es klingt arrogant, ich weiß. Aber für mich war es der Beweis, dass sein Tod nicht umsonst war. Ich wollte ihm zeigen, dass ich es geschafft habe. Dass ich den Schmerz besiegt habe.

Doch vor drei Wochen geschah etwas Seltsames. Als ich um 9:00 Uhr am Grab ankam, lag dort etwas auf der polierten Granitplatte. Keine Blume. Keine Kerze. Es war ein kleines, dreckiges Stück roter Ziegelstein. Ein abgebrochener Rest, alt und verwittert.

Ich war wütend. Wer wirft Bauschutt auf das Grab meines Vaters? Ich nahm den Stein und warf ihn in den Mülleimer. Doch am nächsten Samstag lag wieder ein Ziegelstein dort. Und am Samstag darauf wieder. Das war kein Zufall. Jemand spielte ein Spiel mit mir. Jemand entweihte meinen heiligen Ort.

Diesen Samstag beschloss ich, dem Spuk ein Ende zu setzen. Ich fuhr nicht um neun Uhr hin. Ich war schon um halb neun da. Ich parkte mein Auto weiter weg und versteckte mich hinter einer hohen Eibenhecke, von der aus ich das Grab sehen konnte. Es war eiskalt. Mein Atem bildete kleine weiße Wolken in der grauen Morgenluft. Ich wartete.

Um 8:50 Uhr hörte ich schlurfende Schritte im Kies. Ein alter Mann erschien. Es war Herr Kroll, der alte Friedhofsgärtner, den ich seit Jahren vom Sehen kannte, aber nie gegrüßt hatte. Er trug eine abgewetzte grüne Latzhose und eine dicke Wollmütze. Er blieb vor dem Grab meines Vaters stehen. Er nahm seine Mütze ab, obwohl es schneite. Dann griff er in seine Tasche, holte ein rotes Ziegelstück heraus und legte es behutsam, fast zärtlich, auf den Rand des Grabsteins. Er klopfte zweimal mit der Hand auf den Stein, wie man einem alten Freund auf die Schulter klopft.

Ich stürmte aus meinem Versteck hervor. „Herr Kroll!“ rief ich. Meine Stimme hallte viel zu laut durch die Stille. Der alte Mann zuckte zusammen, drehte sich aber langsam um. Seine Augen waren trüb, aber wach. „Warum legen Sie Müll auf das Grab meines Vaters?“ herrschte ich ihn an. „Ist das ein schlechter Scherz?“

Herr Kroll sah mich lange an. Dann lächelte er traurig. „Du musst Kilian sein“, sagte er mit einer krächzenden Stimme. „Der Junge mit dem Anzug.“ Ich war perplex. „Woher kennen Sie meinen Namen?“

„Ich war der Vorarbeiter deines Vaters, Junge. Damals, auf der Baustelle in Cannstatt.“

Ich erstarrte. Die Wut in meinem Bauch wich einer seltsamen Kälte. Herr Kroll fuhr fort, den Blick auf den Grabstein gerichtet. „An jenem Tag… dein Vater hätte nicht auf das Gerüst steigen müssen. Die Schicht war eigentlich vorbei.“ „Ich weiß“, unterbrach ich ihn bitter. „Er wollte Geld für den Urlaub.“

„Nein“, sagte Herr Kroll leise. Er schüttelte den Kopf. „Das hat er dir vielleicht erzählt.“ Er trat einen Schritt näher an mich heran. „In der Mittagspause an jenem Tag zeigte er uns einen Katalog. Da war kein Strand drin, Kilian. Da war ein Baukasten drin. So ein teures Technik-Set von Lego.“

Mir stockte der Atem. Ich erinnerte mich. Ich hatte wochenlang vor dem Schaufenster gestanden und diesen Baukasten angestarrt. „Arno sagte zu mir: ‚Kroll, schau dir die Hände von meinem Jungen an. Die sind weich. Die sind nicht für Zement und Ziegel gemacht. Der Junge hat einen Kopf für Pläne, nicht einen Rücken zum Schleppen. Ich muss noch ein paar Stunden machen, damit ich ihm das Werkzeug für seinen Kopf kaufen kann. Ich baue das Fundament, damit er den Turm bauen kann.‘“

Herr Kroll zeigte auf den kleinen roten Ziegelstein auf dem Grab. „Das ist kein Müll, Kilian. Das ist ein Stück von der Mauer, an der er zuletzt gearbeitet hat. Ich lege es hin, um ihm zu sagen: ‚Das Fundament hält, Arno. Der Junge steht fest.‘“

Ich stand da, mitten im Schnee, in meinem teuren Mantel, und fühlte mich plötzlich wieder wie zwölf. All die Jahre dachte ich, ich müsse erfolgreich sein, um seinen Tod wiedergutzumachen. Ich dachte, ich müsste stark sein. Ich dachte, ich hätte mich ganz allein aufgebaut. Aber ich war falsch gelegen. Ich war kein Self-made-Man. Ich war das Werk meines Vaters. Er hatte nicht sein Leben für einen Urlaub geopfert. Er hatte es geopfert, damit ich niemals Ziegel schleppen muss, sondern sie zeichnen darf.

Die Tränen kamen ohne Vorwarnung. Sie liefen heiß über meine kalten Wangen. Ich schämte mich nicht, nicht vor Herr Kroll. Ich ging langsam zum Grab, nahm den Ziegelstein und drückte ihn fest in meine Hand. Die raue Oberfläche kratzte an meiner Handfläche – derselben Handfläche, die heute nur Stifte und Computermäuse hält.

„Danke, Herr Kroll“, flüsterte ich.

Heute ist Samstag. Es ist 9:15 Uhr. Ich sitze immer noch hier. Aber heute habe ich keinen „Bericht“ erstattet. Ich habe ihm nicht von meinem Gehalt erzählt. Ich habe den Ziegelstein in die Tasche meines Sakkos gesteckt, direkt neben mein Herz. Ich habe das kalte Marmor berührt und zum ersten Mal seit 26 Jahren nicht gesagt: „Ich habe es geschafft.“ Sondern: „Danke, Papa. Wir haben es geschafft.“

Wir denken oft, Trauer bedeutet loslassen. Aber manchmal bedeutet Trauer einfach nur zu verstehen, auf wessen Schultern wir eigentlich stehen.

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