Meine Frau denkt immer noch, ich habe eine Geliebte. Und heute, zum ersten Mal, werde ich ihr den Namen nennen: Arno.
Als ich vom Waldfriedhof zurückkam, war es schon nach zehn. Ich roch nach Schnee und Erde, und in meiner Sakkotasche lag der Ziegelstein wie ein kleines, schweres Herz.
Nina stand in der Küche, als hätte sie seit Stunden genau dort gewartet. Der Kaffee war kalt geworden, der Blick in ihrem Gesicht warm und zugleich müde, wie eine Lampe, die zu lange brennt.
„Du warst wieder dort“, sagte sie. Es war kein Vorwurf mehr. Nur Feststellung.
Ich nickte und stellte den Schlüssel hin, als wäre er plötzlich zu laut. „Ja. Aber heute… war es anders.“
Sie verschränkte die Arme. Man sah ihr an, dass sie sich eine Antwort erarbeitet hatte, eine Theorie, die sie nachts beruhigte und tagsüber verletzte. „Kilian, ich frage dich seit Wochen… Warum musst du jeden Samstag weg? Warum ausgerechnet um neun? Und warum kommst du zurück, als wärst du…“ Sie suchte nach dem Wort. „…als wärst du von irgendwo gerettet worden.“
Ich zog den Ziegelstein aus der Tasche und legte ihn vorsichtig auf den Küchentisch. Zwischen Brotkorb und Obstschale wirkte er absurd, wie ein Fremdkörper aus einem anderen Leben.
Nina starrte ihn an. „Was ist das?“
„Ein Stück Mauer“, sagte ich. „Von der letzten Baustelle meines Vaters.“
Sie sah mich an, als hätte ich plötzlich eine Sprache gewechselt. „Dein Vater ist seit…“
„Seit sechsundzwanzig Jahren tot“, fiel ich ihr leise ins Wort. „Und ich war seit sechsundzwanzig Jahren jeden Samstag um neun Uhr bei ihm. Ohne dich. Ohne Mara. Ohne jemand.“
Nina atmete durch die Nase aus. „Warum hast du mir das nie gesagt?“
Ich setzte mich langsam. Die Knie fühlten sich seltsam an, als hätte ich den Körper eines anderen. „Weil ich dachte, es wäre… lächerlich. Oder krank. Oder ich dachte, du würdest sagen, ich lebe in der Vergangenheit.“
„Kilian“, sagte sie, und ihr Ton wurde weich, aber gefährlich, weil er so ehrlich war. „Ich habe gedacht, du lebst in einer Lüge.“
Ich senkte den Blick. „Ich weiß.“
Ein paar Sekunden war nur der Kühlschrank zu hören, dieses monotone Summen, das immer da ist, wenn Menschen nicht wissen, wie sie weitersprechen sollen.
„Setz dich“, sagte Nina schließlich und zog einen Stuhl. „Erzähl. Von vorne. Nicht als Architekt. Als Sohn.“
Und da, am Küchentisch, erzählte ich ihr alles. Von dem Geruch der nassen Erde an dem Morgen, als unsere Tochter geboren wurde. Von den Sätzen, die ich am Grab sagte wie ein Gebet: *Ich habe es geschafft, Papa.* Von meinem Stolz, der eigentlich Angst war, und von meiner Wut auf den Ziegelstein, weil er mein System störte.
Als ich Herr Kroll erwähnte, hob Nina kurz die Hand. „Kroll… der Gärtner? Der alte Mann, den man manchmal sieht?“
„Ja“, sagte ich. „Er war der Vorarbeiter meines Vaters. Und er hat mir gesagt, warum mein Vater wirklich die Extraschicht machte.“
Ich merkte, wie meine Stimme brüchig wurde, als ich den Satz wiederholte: „Er wollte mir ein Lego-Technik-Set kaufen. Werkzeug für den Kopf.“
Nina legte ihre Fingerspitzen auf den Ziegelstein. „Deshalb ist das so wichtig für dich.“
„Ja“, sagte ich. „Aber nicht so, wie ich dachte.“
Sie sah mich lange an. Und in ihrem Blick lag etwas, das ich seit Monaten vermisst hatte: nicht Misstrauen, sondern Neugier. Nicht Kontrolle, sondern echtes Dabeisein.
„Und was willst du jetzt?“ fragte sie. „Weiter jeden Samstag allein hinfahren?“
Ich schluckte. „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich… zum ersten Mal nicht mehr hinfahre, um zu beweisen, dass ich wer bin. Ich will hinfahren, um…“ Ich suchte nach Worten. „…um ihm wirklich zu begegnen. Nicht meinem eigenen Ehrgeiz.“
Nina nickte langsam. „Dann lass uns das gemeinsam tun.“
Ich hob den Kopf. „Was?“
„Ich meine es ernst“, sagte sie. „Wenn das dein Vater ist, dann ist das auch ein Teil von dir. Und du bist mein Mann. Ich will nicht mehr vor einer verschlossenen Tür stehen, Kilian.“
In diesem Moment hörten wir Schritte im Flur. Mara, unsere Tochter, erschien in der Küchentür, noch im Schlafanzug, die Haare zerzaust. Sie sah den Ziegelstein, dann uns, als würde sie spüren, dass hier etwas Schweres auf dem Tisch liegt.
„Warum guckt ihr so?“ fragte sie.
Nina zog sie näher. „Komm mal her, Schatz.“
Mara kam, setzte sich, schaute mich an. „Ist was passiert?“
Ich atmete tief ein. „Ich habe dir nie viel über deinen Opa erzählt. Nicht richtig. Und heute… will ich es.“
Mara runzelte die Stirn. „Den Opa, den ich nie gesehen hab?“
„Ja“, sagte ich. „Den.“
Ich erzählte auch ihr, in einfacheren Worten. Vom Maurer. Von der Ostsee-Lüge. Vom Lego-Wahrheit. Von dem Ziegelstein, der wie ein kleiner Beweis ist, dass Liebe manchmal so aussieht: nicht wie Blumen, sondern wie Arbeit.
Mara hörte ungewohnt still zu. Als ich fertig war, nahm sie den Ziegelstein in beide Hände. Er sah in ihren Händen zu groß aus, wie ein alter, schwerer Brocken Welt.
„Der ist kalt“, sagte sie.
„Ja“, antwortete ich. „Aber er hat etwas getragen.“
Mara blickte auf. „Dich.“
Ich nickte, und das kleine Wort traf mich härter als jede Rede. „Ja.“
In der Woche danach ging ich zur Arbeit wie immer. Ich zeichnete, ich telefonierte, ich unterschrieb. Aber etwas hatte sich verschoben, als hätte jemand in meinem Inneren einen Balken geradegerückt.
Ich ertappte mich dabei, dass ich auf Baustellen anders hinsah. Nicht nur auf Linien und Winkel, sondern auf Gesichter, auf Rücken, auf Hände. Die rauen Hände, die man in Besprechungen oft übersieht.
Am Mittwoch stand ich auf einem Rohbau, der Wind pfiff über die Gerüste. Ein Polier erklärte mir Termine, und ich hörte plötzlich nicht nur das Wort *Verzug*, sondern auch die Müdigkeit dahinter.
„Wie lange sind Sie heute schon hier?“ fragte ich.
Der Mann blinzelte. „Seit sechs.“
„Und wann sind Sie fertig?“
Er zuckte mit den Schultern. „Wenn’s fertig ist.“
Ich nickte, und es tat mir weh, weil ich wusste, dass das kein Spruch ist, sondern eine Lebensform. Ich dachte an Arno, an Kroll, an das Wort *Extraschicht*, das ich immer als Mittel zum Zweck gesehen hatte.
Am Donnerstag rief ich den Friedhof an. Ich hatte noch nie dort angerufen. Ich wusste nicht einmal, wie man das macht, ohne sich wie ein Fremder im eigenen Leben zu fühlen.
Eine sachliche Stimme meldete sich. Ich fragte nach Herr Kroll.
„Herr Kroll ist freier Mitarbeiter“, sagte die Stimme. „Wenn Sie ihn suchen: Samstags ist er da. Früh.“
Natürlich, dachte ich. Natürlich ist er samstags da. Während ich seit Jahren samstags komme, ohne zu sehen, wer sonst noch kommt.
Am Freitagabend stellte Nina zwei Mäntel bereit. Einen für mich. Einen für sie. Und Mara stellte ihre Winterstiefel daneben, ohne dass wir sie darum gebeten hatten.
„Du kommst wirklich mit?“ fragte ich meine Tochter, als ich sie dabei erwischte.
Mara zuckte mit den Schultern, aber ihre Augen verrieten, dass es ihr wichtig war. „Wenn du da jede Woche hingehst, ist das irgendwie… Teil von uns. Und ich will wissen, warum.“
Ich schlief schlecht. Nicht aus Angst vor dem Friedhof, sondern aus Angst vor dem, was dort auf mich warten könnte, wenn ich nicht mehr allein war. Alleinsein war mein Ritual gewesen. Gemeinsamsein war ein Risiko.
Samstagmorgen. Noch dunkel. Der Himmel wie eine graue Decke. Um Viertel vor neun standen wir am Waldfriedhof, drei Gestalten, die zu früh da sind, weil sie nicht wissen, wie man richtig ankommt.
Nina nahm meine Hand. Ihre Finger waren warm, und ich spürte, wie meine Hand unbewusst verkrampfte, als müsste sie etwas halten.
Mara lief ein paar Schritte voraus, dann blieb sie stehen, als hätte sie den Ort auf einmal verstanden. Friedhöfe sind für Kinder oft nur ein Wort. Bis man davorsteht.
Wir gingen den Kiesweg entlang. Ich kannte jeden Stein, jede Bank, jede Eibe. Aber heute sah ich alles anders, weil ich nicht mehr nur in meinem Kopf unterwegs war.
Um 8:50 Uhr hörten wir das Schlurfen.
Herr Kroll kam wie beim letzten Mal, die grüne Latzhose, die Wollmütze, der langsame Schritt. In seiner Hand hielt er wieder ein rotes Ziegelstück.
Er blieb vor dem Grab stehen, nahm die Mütze ab. Legte den Ziegelstein hin. Klopfte zweimal.
Klicke auf die Schaltfläche unten, um den nächsten Teil der Geschichte zu lesen. ⏬⏬






