Meine Frau glaubt, ich betrüge sie, dabei liebe ich nur das Grab meines Vaters

Ich trat diesmal nicht stürmisch aus dem Versteck. Ich ging ruhig auf ihn zu, Nina und Mara neben mir.

„Guten Morgen, Herr Kroll“, sagte ich.

Der alte Mann drehte sich um und blinzelte. Sein Blick wanderte von mir zu Nina, zu Mara. Er verstand sofort, dass sich etwas verändert hatte.

„Ah“, sagte er leise. „Heute nicht allein.“

„Nein“, sagte ich. „Das sind Nina. Meine Frau. Und Mara. Unsere Tochter.“

Mara hob kurz die Hand, unsicher, als würde man sich in einer Kirche vorstellen. „Hallo.“

Herr Kroll nickte ihr zu, fast feierlich. „Dann… hat Arno jetzt Besuch. Das freut ihn.“

Nina trat einen Schritt näher ans Grab. Sie schaute auf den Namen, als würde sie ihn zum ersten Mal wirklich lesen. Arno. Geboren. Gestorben. Zwei Daten, die so wenig sagen über ein Leben.

„Ich kenne ihn nur aus Kilians Schweigen“, sagte Nina. Ihre Stimme zitterte nicht, aber sie war dünn, wie Papier. „Und aus seinem Pflichtgefühl.“

Herr Kroll sah mich an, und in seinem Blick lag ein Vorwurf ohne Härte. Nur Wahrheit. „Pflichtgefühl kann Liebe sein“, sagte er. „Aber Liebe ist mehr, wenn man sie teilt.“

Ich nickte langsam. „Ich habe das lange nicht gekonnt.“

Herr Kroll zeigte auf den Ziegelstein. „Dein Vater war kein großer Redner. Er hat mit Material gesprochen. Mit Arbeit. Mit dem, was hält.“

Mara kniete sich hin. Sie streckte die Hand aus und berührte den Ziegelstein, als wäre er ein Stück Zeit. „Hat er sich wehgetan?“

Herr Kroll atmete aus. „Ja“, sagte er. „Sehr. Und doch…“ Er sah auf den Namen. „Er hat bis zuletzt gedacht, er macht das Richtige.“

Ich schluckte. „Warum haben Sie mir das erst jetzt gesagt? Warum nicht früher?“

Herr Kroll zog die Schultern hoch. „Weil du immer gekommen bist, geschniegelt, geschniegelt im Kopf, geschniegelt im Herzen. Du hast geredet, als würdest du präsentieren. Und ich dachte: Er braucht noch Zeit, bis er nicht mehr beweisen muss.“

Nina drückte meine Hand. „Und der Ziegelstein war…“

„Ein Klopfen an die Tür“, sagte Herr Kroll. „Kein Angriff. Ein Zeichen.“

Ich sah auf das Grab. In all den Jahren hatte ich es wie eine Bühne behandelt: ich vorne, mein Vater still. Jetzt spürte ich, wie klein ich war. Und wie groß er.

Ich nahm den Ziegelstein, den ich in der Sakkotasche getragen hatte, heraus. Nicht den, den Kroll hingelegt hatte. Meinen. Den ich neben dem Herzen getragen hatte.

Ich legte ihn neben den anderen. Zwei Stücke Rot auf kaltem Stein. Wie zwei Sätze, die zusammengehören.

„Papa“, sagte ich leise.

Nina und Mara traten näher. Es war merkwürdig, den Namen laut zu sagen, nicht nur im Kopf. Es war, als würde man jemanden zurück in den Raum holen.

„Ich habe dir lange nur von mir erzählt“, sagte ich. „Heute will ich… von dir erzählen.“

Ich drehte mich zu Mara. „Dein Opa hat nie das Meer gesehen. Aber er hat dir…“ Ich stockte. „Er hat dir die Möglichkeit gebaut, eines Tages alles zu sehen.“

Mara biss sich auf die Lippe. „Dann… kann ich ja vielleicht mal ans Meer gehen. Für ihn.“

Ich nickte. „Ja.“

Herr Kroll räusperte sich. „Wenn ihr wollt“, sagte er, „kann ich euch etwas zeigen.“

Er ging ein paar Schritte den Weg hinunter, zu einem unscheinbaren Abschnitt, wo alte Werkzeuge in einer kleinen Hütte lagerten. Er nahm ein Bündel heraus: Handschuhe, eine alte Kelle, ein Stück Maßband, verwittert.

„Das sind Dinge, die liegen bleiben“, sagte er. „Manchmal holt sie keiner ab. Manchmal… will keiner sie sehen.“

Ich starrte auf die Kelle. Die Vorstellung, dass mein Vater sie gehalten hatte, schnitt mir durch die Brust.

„Ich kann sie nicht einfach mitnehmen“, sagte ich.

„Musst du nicht“, antwortete Herr Kroll. „Aber du kannst sie ansehen. Und du kannst entscheiden, was du daraus machst.“

Als wir zurück am Grab waren, blieb Nina stehen und sagte etwas, das mich überraschte.

„Kilian“, sagte sie, „du redest immer davon, dass du Hochhäuser entwirfst. Dass du ‘Türme’ baust. Aber du hast nie über das Fundament gesprochen.“

Ich atmete aus. „Weil ich dachte, das Fundament sei… vorbei. Vergangen.“

„Es ist nie vorbei“, sagte sie. „Es ist nur unsichtbar, wenn es hält.“

Mara schaute zwischen uns hin und her. „Kann man… irgendwas für ihn machen? So richtig?“

Ich dachte an Blumen, Kerzen, Rituale. Und merkte, dass ich etwas anderes wollte. Etwas, das nicht nur tröstet, sondern verbindet.

„Ja“, sagte ich. „Man kann.“

In der folgenden Woche rief ich nicht nur beim Friedhof an. Ich rief auch bei meiner Firma an, bei Leuten, die Budgets kennen und Sätze sagen wie *das ist nicht vorgesehen*.

Ich schlug vor, auf unseren Baustellen eine kleine Sache einzuführen: eine Ecke, ein trockener Platz, ein ordentlicher Raum für die Leute, die draußen arbeiten. Nicht als PR, nicht als Foto. Einfach, weil ein Mensch nicht nur Hände hat, die funktionieren sollen.

Manche schauten mich an, als wäre ich plötzlich sentimental geworden. Vielleicht war ich das. Aber ich blieb ruhig.

„Es kostet weniger als ein Fehler in der Statik“, sagte ich. „Und es bedeutet mehr als ein Bonus.“

Am Freitagabend setzte ich mich mit Mara an den Tisch. Ich holte einen Katalog hervor. Nicht denselben von damals, aber einen mit Baukästen. Sie lachte zuerst.

„Was ist das denn?“

„Ein Werkzeug für den Kopf“, sagte ich.

Sie wurde still. Dann grinste sie. „Du bist echt komisch geworden, Papa.“

„Vielleicht“, sagte ich. „Vielleicht war ich vorher zu normal auf die falsche Art.“

Am nächsten Samstag gingen wir wieder. Diesmal um neun. Nicht aus Zwang, sondern weil es sich richtig anfühlte.

Herr Kroll war schon da. Er nickte uns zu, als wären wir jetzt eine Art kleiner Kreis, der sich gefunden hat.

Wir standen am Grab, und ich erzählte meinem Vater nicht vom Audi, nicht vom Haus, nicht vom Vertrag. Ich erzählte ihm von Mara, wie sie den Baukasten aufbaute und dabei fluchte, weil eine Schraube nicht passte. Ich erzählte ihm von Nina, wie sie abends still wurde, als sie seinen Namen das erste Mal bewusst gelesen hatte. Ich erzählte ihm von den Händen auf der Baustelle, die ich endlich sah.

Und dann, als ich fertig war, sagte ich etwas, das ich nie gesagt hatte. Nicht in sechsundzwanzig Jahren.

„Papa“, sagte ich, „ich habe mich so lange geschämt, dass ich dich brauche. Dabei… ist es doch normal, dass man jemanden braucht.“

Nina legte ihre Hand auf meinen Rücken. Nicht schützend, sondern da. Mara stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihre Fingerspitzen, dann berührte sie kurz den Grabstein, als wäre es ein stiller Gruß.

Herr Kroll räusperte sich. „Arno hätte das gemocht“, sagte er. „Dass ihr nicht nur kommt. Dass ihr miteinander hier seid.“

Ich nickte. In meinem Inneren war nichts mehr, das beweisen musste. Da war nur etwas, das halten wollte.

Als wir gingen, blieb ich noch einmal stehen. Ich drehte mich um, sah den Grabstein, die zwei Ziegelstücke, das Rot auf dem Grau.

„Weißt du, Nina“, sagte ich leise, „du hattest recht. Ich habe eine Geliebte.“

Sie sah mich an, und zum ersten Mal seit Wochen lächelte sie ohne Schmerz. „Und wie heißt sie?“

Ich nahm den Ziegelstein aus der Tasche, hielt ihn einen Moment fest, als würde ich prüfen, ob er noch warm werden kann.

„Dankbarkeit“, sagte ich.

Nina nickte. Mara stieß die Luft aus, als würde sie lachen und weinen gleichzeitig. „Das ist die schlimmste Antwort überhaupt“, murmelte sie — aber sie nahm meine Hand.

Wir gingen durch den Kies, und ich merkte, dass neun Uhr nicht mehr wie eine Kette an meinem Handgelenk hing. Es war jetzt ein Punkt in der Woche, an dem ich mich erinnere, wer mich gebaut hat.

Trauer ist nicht nur Loslassen. Manchmal ist Trauer ein Fundament, das endlich sichtbar wird.

Und manchmal ist Heilung so einfach wie ein Satz, den man zu spät lernt — und dann doch noch rechtzeitig sagt:

„Danke, Papa. Wir tragen es weiter.“

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