Mit 76 zu alt für einen Hund? Zwei Seelen trotzen Herbst und Abschied

„Mit 76 sind Sie ein Risiko, Frau Schmidt. Wenn Sie sterben, kommt der Hund zurück.“ Dieser Satz traf mich härter als jede Diagnose.

Es war ein windiger Nachmittag im Oktober in Nordrhein-Westfalen. Goldene und braune Blätter fegten über den tristen Asphalt des Tierheims, ein Rascheln, das so melancholisch klang wie mein Leben in den letzten zwei Jahren seit dem Tod meines Mannes. Der Herbst war da, und mit ihm die Kälte, die langsam in die Knochen kroch.

Ich saß auf einem unbequemen Plastikstuhl. Mir gegenüber saß Daniel. Ein junger Mann, vielleicht Ende zwanzig, mit einem sorgfältig getrimmten Bart und einem strengen Blick, der so gar nicht zu seinem T-Shirt mit dem Aufdruck „Adopt, Don’t Shop“ passte. Auf seinem Schreibtisch lag mein ausgefüllter Fragebogen.

„Es tut mir leid“, sagte Daniel und schob das Papier beiseite. Seine Stimme war nicht unfreundlich, nur schrecklich sachlich. Das war das Problem in diesem Land: Wir sind so effizient, so vernünftig, dass wir manchmal vergessen, menschlich zu sein. „Wir haben Richtlinien. Ein Hund bedeutet Verantwortung für zehn, vielleicht fünfzehn Jahre. Statistisch gesehen… nun ja, Sie verstehen schon.“

Er sprach nicht aus, was er dachte: Du bist zu alt. Du bist ein Auslaufmodell.

Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. Nicht aus Wut, sondern aus Scham. Ich hatte mein ganzes Leben lang gearbeitet, Steuern gezahlt, Kinder großgezogen, die jetzt in München oder Berlin lebten und einmal im Jahr anriefen. Und jetzt, wo ich einfach nur eine lebendige Seele um mich haben wollte, wurde mir gesagt, ich sei nicht qualifiziert genug für das Leben.

„Ich verstehe“, sagte ich leise, nahm meine Handtasche und stand auf. Meine Gelenke knackten hörbar. Daniel sah betreten auf seine Tastatur.

Aber ich ging nicht zum Ausgang. Stattdessen bog ich links ab, in den Gang mit den Zwingern. Ich wollte mich wenigstens noch einmal umschauen, mich quälen, vielleicht um mir selbst zu beweisen, dass Daniel recht hatte.

Der Lärm war ohrenbetäubend. Hunde sprangen gegen die Gitter, bellten, winselten, bettelten um Aufmerksamkeit. Junge Labradore, wilde Terrier-Mischlinge. Sie waren voller Energie. Daniel hatte recht. Ich könnte keinen dieser Hunde halten, wenn sie an der Leine zerrten. Ich war eine alte Frau mit Arthritis und einem zu großen, zu stillen Haus.

Und dann sah ich ihn.

Ganz hinten, im letzten Zwinger, lag ein Haufen graues Fell auf einer abgewetzten Decke. Er stand nicht auf. Er hob nicht einmal den Kopf, als ich vor seinem Gitter stehen blieb. Am Gitter hing ein Schild: „Denzo. 14 Jahre. Schäferhund-Mix. Abgegeben wegen Umzug. Braucht Medikamente. Gnadenbrotplatz gesucht.“

„Gnadenbrot“. Ein schreckliches deutsches Wort. Es klingt nach dem letzten Bissen, bevor das Licht ausgeht.

Ich ging in die Hocke, ignorierte den Schmerz in meinen Knien. „Na, alter Junge?“, flüsterte ich.

Denzos Ohren zuckten. Langsam, fast mühsam, hob er den Kopf. Seine Augen waren trüb, von einem milchigen Schleier überzogen, aber der Blick, der mich traf, ging mir durch Mark und Bein. Es war kein Betteln. Es war ein Erkennen. Er stand auf. Seine Hinterbeine zitterten leicht, genau wie meine Hände. Er schlurfte zum Gitter, drückte seine graue Schnauze durch die Stäbe und atmete schwer aus. Ein tiefes Seufzen.

In diesem Moment, zwischen dem Geruch von Desinfektionsmittel und nassem Hund, verstanden wir uns. Wir waren beide übrig geblieben. Wir befanden uns beide im Herbst unseres Lebens. Seine Familie hatte ihn entsorgt, weil er unbequem wurde. Die Gesellschaft hatte mich abgeschrieben, weil ich nicht mehr produktiv war.

Ich stand auf. Diesmal knackten meine Knochen nicht. Ich fühlte eine Kraft, die ich seit Jahren nicht mehr gespürt hatte. Ich ging zurück ins Büro.

Daniel war gerade dabei, seinen Computer herunterzufahren. Er sah überrascht auf, als ich wieder vor seinem Schreibtisch stand.

„Haben Sie etwas vergessen, Frau Schmidt?“

„Ich will Denzo“, sagte ich. Meine Stimme zitterte nicht mehr.

Daniel seufzte, sichtlich genervt. Er rieb sich die Schläfen. „Frau Schmidt, bitte. Denzo ist 14. Er hat Arthrose, er braucht Herztabletten, er ist inkontinent, wenn er sich aufregt. Und…“ Er zögerte. „Wir planen, ihn nächste Woche einschläfern zu lassen. Niemand will einen sterbenden Hund.“

„Genau deshalb“, sagte ich fest.

Daniel starrte mich an.

„Sie haben vorhin von Statistik gesprochen, junger Mann“, fuhr ich fort und stützte mich mit beiden Händen auf seinen Schreibtisch. „Sie haben Angst, dass ich vor dem Hund sterbe. Aber schauen Sie sich Denzo an. Er sucht niemanden, der mit ihm Bällchen spielt oder durch den Wald joggt. Er braucht niemanden, der Pläne für die nächsten fünf Jahre macht.“

Ich holte tief Luft. „Er braucht jemanden, der weiß, wie sich die Kälte im Oktober anfühlt, wenn die Glieder schmerzen. Er braucht jemanden, der langsam geht. Er braucht jemanden, der weiß, dass das Leben endlich ist.“

Daniel öffnete den Mund, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Sie geben junge Hunde an junge Familien, richtig? Und was passiert, wenn der Hund krank wird? Wenn er alt wird? Wenn er ‚zu viel Arbeit‘ macht? Dann landen sie wieder hier. Ich habe meinen Mann bis zu seinem letzten Atemzug gepflegt, Daniel. Ich habe keine Angst vor dem Tod. Und ich habe keine Angst vor Kot oder Urin oder Tierarztkosten. Ich habe nur Angst vor der Stille.“

Meine Stimme brach leicht. „Geben Sie ihn mir nicht, damit er ewig lebt. Geben Sie ihn mir, damit er nicht allein in einem Käfig sterben muss, während er auf jemanden wartet, der nie kommt. Wir begleiten uns gegenseitig nach Hause. Das ist alles, was ich will.“

Es wurde still im Büro. Man hörte nur das Summen des Kühlschranks und das Heulen des Windes draußen vor dem Fenster.

Daniel sah mich lange an. Sein „Beamten-Blick“ bröckelte. Ich sah, wie er schluckte. Er blickte auf den roten Stempel auf Denzos Akte: Euthanasie vorgesehen. Dann sah er zu mir.

Ohne ein Wort zu sagen, griff er nach der Akte. Er nahm den Stempel und warf ihn in den Mülleimer. Das Geräusch hallte laut wider.

„Er frisst nur Nassfutter“, sagte Daniel rau, ohne mich anzusehen, während er hastig ein Formular ausdruckte. „Und er muss die Tabletten in Leberwurst versteckt bekommen, sonst spuckt er sie aus.“

„Ich habe immer Leberwurst zu Hause“, antwortete ich leise.

Als Daniel mir die Leine in die Hand drückte, berührten sich unsere Finger kurz. „Passen Sie auf ihn auf“, sagte er. Es klang nicht mehr wie eine Vorschrift. Es klang wie eine Bitte.

Der Weg zum Parkplatz war langsam. Der Oktoberwind zerrte an meinem Mantel und Denzos Fell. Er ging nicht bei Fuß, er schlurfte neben mir her, Schritt für Schritt, angepasst an mein Tempo.

Als ich ihn auf den Rücksitz meines alten Opel hievte – was uns beiden einige Anstrengung kostete – leckte er mir kurz über die Hand. Seine Zunge war rau und warm.

Heute Abend liegt Denzo auf dem teuren Perserteppich, den ich früher immer geschont habe. Jetzt ist es mir egal. Er schnarcht leise, ein rasselndes, beruhigendes Geräusch. Draußen peitscht der Regen gegen die Scheiben und die letzten Blätter fallen von den Bäumen, aber hier drinnen ist es warm.

Die Leute sagen, ich hätte ihn gerettet. Sie nennen mich eine „Heldin“ auf Facebook, wenn meine Enkel Fotos von uns posten. Aber sie irren sich.

Wenn ich in seine milchigen Augen sehe, weiß ich die Wahrheit. Denzo hat mich nicht gebraucht, um zu überleben. Er hat mich gebraucht, um Frieden zu finden. Und ich?

Ich habe gelernt, dass das Leben nicht vorbei ist, nur weil der Herbst angebrochen ist. Wir sind zwei alte Seelen, die beschlossen haben, dass der letzte Weg nicht einsam sein muss.

Und wenn die Zeit kommt – für ihn oder für mich – werden wir nicht allein sein. Das ist der beste Vertrag, den ich je unterschrieben habe

Klicke auf die Schaltfläche unten, um den nächsten Teil der Geschichte zu lesen. ⏬⏬

Scroll to Top