Mit roten Schuhen und späten Träumen fand ich den Mut zu meinem Leben

Heute Morgen bin ich mit einem lila Federhut auf dem Kopf und roten orthopädischen High Heels durch den Supermarkt geschwebt, und zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich nicht geschämt, sondern frei gefühlt.

Die Leute haben natürlich geguckt. Eine junge Mutter hat ihr Kind am Ärmel gezogen, eine ältere Frau hat die Augenbrauen hochgezogen, als ich an ihr vorbeigeschoben bin. Früher hätte ich mir gewünscht, unsichtbar zu sein.

Heute habe ich meinen Einkaufswagen noch ein bisschen gerader geschoben und gedacht: Wenn mein verstorbener Mann mich jetzt sehen könnte, würde er rot anlaufen vor Peinlichkeit.

Mein Name ist Hilde, ich bin zweiundsiebzig und habe den größten Teil meines Lebens damit verbracht, niemandem zur Last zu fallen. Erst brave Tochter, dann brave Ehefrau, dann brave Mutter. Immer ordentlich, sparsam, angepasst. Meine Kleiderschränke waren voll Beige und Dunkelblau, mein Kalender voll Termine für andere Leute.

Vor einem halben Jahr ist meine Freundin Anneliese im Pflegeheim gestorben. Ihr Zimmer war sauber, steril, an der Wand ein Kalender vom letzten Jahr, drei Familienfotos auf dem Nachttisch.

Ihre Tochter hat bei der Trauerfeier gesagt: Mama hat ihr ganzes Leben nur für uns gelebt. Das sollte wohl tröstlich sein. Mir hat es die Luft abgeschnitten.

In der Nacht danach saß ich in meiner Küche, in meinem kleinen Reihenhaus am Stadtrand von Hannover, und hörte die Heizung rauschen. Auf dem Tisch lag der ungeöffnete Katalog vom Discounter, daneben der Kontoauszug. Ich sah auf die Zahlen und dachte zum ersten Mal nicht: Reicht das, falls ich ins Heim muss? sondern: Reicht das, wenn ich endlich so lebe, wie ich will?

Ein paar Wochen später habe ich das Haus verkauft. Meine Tochter Lisa war entsetzt. Mama, das Haus ist doch unsere Sicherheit, hat sie gesagt. Ich habe ihr erklärt, dass ich nicht mehr in einem viel zu großen Haus alleine Staub wischen will, nur damit jemand später sagen kann: Sie hat alles ordentlich hinterlassen. Jetzt wohne ich in einer kleinen, hellen Wohnung in der Stadt, mit Balkon und Blick auf die Bäume.

Morgens koche ich mir Kaffee, öffne die Balkontür und höre die Vögel, statt im Fernsehen schlechte Nachrichten laufen zu lassen. Manchmal ziehe ich meine Jogginghose an, manchmal meinen Lieblingsrock mit den Blumen, manchmal eben auch die roten orthopädischen High Heels, die sich meine Füße nach drei Jahrzehnten Büroschuhe redlich verdient haben.

Wenn die Sonne scheint, laufe ich zum Bäcker, gönne mir ein Stück Käsekuchen und nehme mir eine kleine Flasche Sekt mit, nur für mich.

Die roten Schuhe habe ich in einem Schaufenster entdeckt. Daneben hingen Ohrringe in Form von Giraffen. Früher hätte ich gedacht: Lächerlich, du bist doch keine zwanzig mehr.

An diesem Tag bin ich in den Laden gegangen, habe die Verkäuferin angelächelt und gesagt: Ich hätte gerne alles, was mir später Spaß macht, wenn ich mal im Rollator sitze und mich an heute erinnere. Sie hat gelacht und mir die Ohrringe eingepackt.

Lisa versteht das nicht. Sie ist fünfundvierzig, alleinerziehend, arbeitet viel, ist müde und hat ständig Angst, dass etwas schiefgeht.

Neulich stand sie in meiner neuen Küche, sah meinen Federhut auf dem Stuhl, die Ohrringe an der Lampe hängen und die Sektflasche auf der Arbeitsplatte. Ihr Blick wurde hart. Mama, du musst vernünftig bleiben, hat sie gesagt. Du bist nicht mehr jung. Wenn du dir den Oberschenkel brichst in diesen Schuhen, wer soll das bezahlen?

Ich habe tief durchgeatmet. Früher hätte ich mich sofort entschuldigt, den Hut in den Schrank gestopft, die Flasche weggepackt. Diesmal nicht. Ich habe ruhig geantwortet: Lisa, ich habe mein ganzes Leben lang vernünftig gewesen. Ich weiß gar nicht, wie man unvernünftig ist. Ich trinke ein Glas Sekt und gehe spazieren. Das ist kein Skandal.

Dann hat sie den Satz gesagt, der mir wehgetan hat. Mama, du wirst langsam wunderlich. Die Leute reden schon. Wunderlich. Früher hätte ich bei dem Wort geheult. Diesmal habe ich nur genickt und gesagt: Sollen sie doch reden. Sie haben auch geredet, als ich drei Jobs hatte und trotzdem nie Zeit für mich. Das hat niemanden interessiert.

Als sie gegangen war, saß ich lange am Küchentisch. Die Wohnung war still, nur das Ticken der Uhr. Ich dachte an all die Jahre, in denen ich versucht hatte, Lisa zu lenken. Mach dies, mach das, bleib in der Ehe, denk an das Kind. Ich habe auch versucht, sie zu verbiegen, so wie jetzt alle mich verbiegen wollen. Mir wurde heiß und kalt zugleich.

In dieser Nacht habe ich einen Brief geschrieben. Liebes Kind, habe ich angefangen, weil sie in meinen Augen auch mit fünfundvierzig noch mein Kind ist. Ich habe ihr erzählt, dass ich keine Hausfrau mehr sein möchte, die nur bewundert wird, weil sie so wenig für sich selbst verlangt. Dass ich keine Mutter mehr sein möchte, die an jeder Entscheidung des erwachsenen Kindes herumzerrt. Und dass ich vor allem keine alte Frau sein möchte, die still in der Ecke sitzt und versucht, niemandem aufzufallen, bis sie verschwindet.

Ich habe ihr geschrieben: Ich werde mir Dinge kaufen, die mich zum Lächeln bringen, ich werde reisen, solange meine Knie halten, und ich werde Tiere immer ein bisschen mehr lieben als Menschen. Ich werde ehrlich sein, aber höflich. Ich werde dich nicht mehr verbessern wollen. Und ich bitte dich nur um eines: Versuche nicht, mich zu reparieren. Ich bin nicht kaputt, ich bin nur endlich ich.

Am nächsten Sonntag kam Lisa zum Kaffee. Der Brief lag noch auf dem Esstisch, ich hatte ihn nicht abgeschickt. Sie hat ihn gesehen, lange geschwiegen und ihn dann gelesen. Ihre Augen wurden glänzend. Ich stand da, mit meinen roten Schuhen, und wartete auf das Urteil.

Sie faltete den Brief zusammen, atmete tief aus und sagte leise: Du siehst eigentlich ganz schön aus in den Schuhen, Mama. Ein bisschen verrückt, aber schön. Ich musste lachen und aufpassen, dass mir nicht doch die Tränen kamen. Setz dich, habe ich gesagt. Ich habe Käsekuchen und, ja, eine kleine Flasche Sekt.

Jetzt sitzen wir manchmal zusammen im Café an der Ecke. Sie mit ihren Sorgen, ich mit meinen roten Schuhen. Wir haben uns nicht grundlegend geändert, aber wir haben aufgehört, einander zu reparieren. In einem Land, in dem alles geregelt, versichert und geplant sein muss, erlaube ich mir zum ersten Mal, einfach nur zu leben.

Wenn die Leute mich wunderlich nennen, lächle ich. Sollen sie. Ich habe zu lange versucht, normal zu sein. Jetzt, in meinen siebziger Jahren, reicht es mir, jeden Morgen aufzuwachen, einen Schluck Kaffee zu nehmen und zu denken: Heute darf ich wieder ich sein. Und niemand muss das in Ordnung finden, außer mir.

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