Mit roten Schuhen und späten Träumen fand ich den Mut zu meinem Leben

An dem Tag, an dem jemand heimlich ein Foto von mir in roten High Heels machte und ins Internet stellte, hätte ich theoretisch wieder in mein altes Leben zurückfallen können.

Ich habe es nicht getan. Vielleicht ist das der eigentliche Unterschied zwischen Teil eins meines neuen Lebens und dem, was jetzt kommt.

Es war ein Dienstagvormittag, Markttag in der Stadt. Ich hatte meine lila Federhut-Phase ein bisschen gezähmt und trug „nur“ die roten Schuhe, eine bunte Bluse und meine Giraffenohrringe.

Ich stand an der Bushaltestelle, der Einkauf im Stoffbeutel, und summte vor mich hin. Neben mir zwei Jugendliche mit Kopfhörern, eine Frau mit Hund, ein Mann im Anzug, der ständig auf sein Handy starrte.

Ich bemerkte das Klicken der Handy-Kamera nur am Rande. Früher hätte ich mich sofort entschuldigt, obwohl ich nichts getan hätte. Diesmal dachte ich nur: Sollen sie doch. Ich bin alt genug, um zu wissen, dass man fast alles überlebt – auch Blicke.

Am Abend klingelte mein Telefon. Es war meine Nachbarin Frau Riedel, Ende sechzig, Witwe, immer etwas zu laut, aber freundlich. „Hilde, bist du das etwa im Internet?“, rief sie ohne Begrüßung.

Mir rutschte das Herz in die Schuhe. „Wie meinst du das?“ – „Meine Enkelin hat mir gerade ein Foto gezeigt. ‚Guck mal, Oma, so will ich auch mal aussehen, wenn ich alt bin.‘ Und da stand drunter: ‚Wunderliche Oma in roten High Heels erobert den Supermarkt.‘“

Ich setzte mich. Wunderliche Oma. Da war es wieder, das Wort. Ich bat sie, mir das Foto zu schicken. Kurz darauf sah ich mich selbst auf dem Handy: Unscharf, seitlich aufgenommen, am Gemüseregal. Hut, Schuhe, bunter Rock, ein bisschen schief, ein bisschen zu laut, aber – ich musste mir das eingestehen – lebendig.

Darunter Kommentare. Einige spöttisch: „Sollte mal jemand der Enkelin erklären, dass Oma sich das Bein bricht.“ Andere wütend: „Rentner sollten froh sein, dass sie überhaupt einkaufen können, und nicht so einen Aufstand machen.“

Aber dazwischen auch Kommentare, die mich trafen wie kleine warme Lichter. „Ich hoffe, ich traue mich in dem Alter auch noch, so auszusehen.“ – „Meine Mama hat sich nie etwas getraut, jetzt liegt sie im Heim. Ich gönne dieser Frau jedes Lächeln.“

Ich legte das Handy zur Seite, ging auf den Balkon und atmete die kühle Luft ein. Früher hätte mich so ein Foto zerstört. Ich hätte tagelang nicht aus dem Haus gehen mögen. Jetzt dachte ich nur: Wenn mich schon jemand heimlich fotografieren muss, dann wenigstens so – aufrecht, bunt, mit vollem Einkaufswagen.

Am nächsten Tag nahm ich mir etwas vor, das ich seit Jahren vor mir herschob. Ich rief im Tierheim an.

„Tierheim Sonnenweg, guten Tag“, sagte eine junge Stimme. Ich räusperte mich. „Guten Tag, hier ist Hilde… ich, äh… ich wollte fragen, ob Sie auch ältere Hunde vermitteln. Die, die keiner mehr will.“ Es entstand eine kleine Pause. Dann sagte die Stimme weich: „Die, die keiner mehr will, sind genau die, die am dringendsten jemanden brauchen. Wann möchten Sie vorbeikommen?“

Ich nahm die roten Schuhe. Nicht zur Show, sondern als Erinnerung: Du hast dir versprochen, zu leben, nicht zu warten.

Das Tierheim lag am Stadtrand, dort, wo die Straßen schmal werden und alles ein bisschen nach feuchter Erde und Laub riecht.

Es bellte und jaulte, als ich durch das Tor ging. Eine junge Frau mit zerzaustem Pferdeschwanz kam mir entgegen. „Sie müssen Frau… Hilde sein, richtig?“, fragte sie. „Ich bin Jana.“

Sie führte mich durch die Reihen der Zwinger. Große Hunde, kleine Hunde, nervöse, resignierte. Manche sprangen am Gitter hoch, andere lagen still in der Ecke und taten so, als ginge sie das alles nichts mehr an.

Mein Herz tat weh. „Ich kann nicht alle mitnehmen“, murmelte ich. Jana nickte. „Nein. Aber vielleicht einen. Und für den ändert sich dann alles.“

Wir blieben vor einem Zwinger stehen, in dem es merkwürdig still war. In der hinteren Ecke lag ein mittelgroßer Mischling, grauweißes Fell, ein Ohr halb abgeknickt, der Blick wachsam, aber müde. „Das ist Bruno“, sagte Jana. „Neun Jahre, Herzchenfehler, war vorher bei einem älteren Herrn. Der ist ins Heim gekommen. Die Angehörigen wollten den Hund nicht.“

Bruno stand auf, langsam, kam nach vorne, schnupperte am Gitter. Seine Augen waren dunkel und vorsichtig, so wie meine, wenn ich mich in fremen Situationen wiederfinde. Ich streckte die Hand durch das Gitter. Er leckte kurz über meine Finger, dann setzte er sich hin, als würde er sagen: Na, was machen wir nun?

Eine Stunde später hatte ich eine Leine in der Hand, eine Mappe mit Unterlagen und einen Hund an meiner Seite, der so tat, als hätte er mich schon immer gekannt.

Lisa war nicht begeistert.

„Hund?“, sagte sie am Telefon, nachdem ich tapfer gestanden hatte, was ich getan hatte. „Mama, du weißt aber schon, was das bedeutet? Tierarztkosten, Futter, Verantwortung…“

Ich sah zu Bruno, der auf meinem Wohnzimmerteppich lag und schnarchte, als sei er nach Jahren das erste Mal in Sicherheit. „Ja, Lisa“, sagte ich. „Ich weiß, was Verantwortung bedeutet. Ich hatte dein Schulbrot immer pünktlich fertig, erinnere dich. Und ich weiß auch, wie sich Einsamkeit anfühlt. Die ist teurer als jede Tierarztrechnung.“

Sie seufzte. „Du machst mir Angst, Mama. Erst die Schuhe, jetzt der Hund… Du veränderst dich so.“

Ich drückte das Handy fester ans Ohr. „Vielleicht verändere ich mich nicht“, sagte ich langsam. „Vielleicht komme ich nur endlich zum Vorschein.“

Es blieb eine Weile still. Dann sagte sie leise: „Du klingst glücklicher.“ – „Bin ich“, antwortete ich. „Das heißt nicht, dass ich dich weniger liebe. Nur dass ich endlich auch mich ein bisschen liebe.“

Ein paar Wochen später besuchte sie uns. Sie stand in meiner Tür, sah Bruno, sah die Hundedecke im Wohnzimmer, den Napf in der Küche. „Er ist alt“, sagte sie. „So wie ich“, erwiderte ich. „Dann passt es doch.“

Zu meiner Überraschung kniete sie sich vor Bruno hin, hielt ihm vorsichtig die Hand hin. Er schnupperte, dann legte er den Kopf hinein. Ich sah, wie sich etwas in ihrem Gesicht löste. „Er riecht nach… na ja, nach Hund“, sagte sie und musste lachen. „Und ein bisschen nach Tierheim“, ergänzte ich. „Das wäscht sich raus. So wie man die Angst irgendwann aus der Seele wäscht.“

Wir gingen zusammen spazieren. Ich in meinen roten Schuhen, diesmal mit flachen Sohlen für den Weg, Lisa in ihren praktischen Sneakers, Bruno zwischen uns.

An der Ampel hielten wir an. Ein junger Mann im Auto starrte auf mein Schuhwerk, dann auf den Hund, dann auf mich. Ich lächelte ihm zu und dachte: Mach ruhig ein Foto, Junge. Aber dieses Bild gehört mir.

Eines Abends passierte doch noch das, wovor alle mich immer gewarnt hatten. Es hatte geregnet, der Bürgersteig war glatt. Bruno zog an der Leine, weil er eine Taube gesehen hatte. Ich machte einen Schritt zu schnell, rutschte aus und landete der Länge nach auf dem Boden.

Es tat weh, natürlich. Mein Knie protestierte, mein Rücken auch. Bruno stand neben mir, winselte und leckte mir übers Gesicht, als wolle er sagen: Steh auf, Frauchen, bitte. Eine junge Frau eilte herbei. „Um Himmels Willen, haben Sie sich verletzt?“

Ich lag da, starrte in den trüben Himmel und musste plötzlich lachen. „Vermutlich“, sagte ich. „Aber wissen Sie was? Es war ein guter Sturz. Ich bin dafür gelaufen, nicht gesessen.“

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