Im Krankenhaus stellte sich heraus, dass nichts gebrochen war, nur geprellt. Lisa tauchte später am Bett auf, das Gesicht bleich, den Blick zwischen Sorge und Ärger. „Ich habe es dir doch gesagt“, flüsterte sie. „Diese Schuhe, dieser Hund, diese… Freiheit…“
Ich nahm ihre Hand. „Lisa“, sagte ich, „du hast mir gesagt, ich soll vernünftig sein. Sei ehrlich: Hat dir meine Vernunft früher geholfen? Hat sie dich glücklicher gemacht? Hat sie mich glücklicher gemacht?“
Sie biss sich auf die Lippe. Dann schossen ihr Tränen in die Augen. „Ich war… ich war manchmal neidisch“, murmelte sie. „Du hast immer alles richtig gemacht. Immer alles für andere. Ich hatte das Gefühl, ich komme nie an dich ran. Jetzt tust du Dinge, die ich mich selbst nicht traue.“
Es war, als würde jemand eine Fensterscheibe zwischen uns einschlagen. Ich drückte ihre Hand fester. „Vielleicht“, sagte ich, „kannst du dir ja bei mir abgucken, wie man ein bisschen unvernünftig ist. Du musst ja nicht gleich mit roten Schuhen anfangen. Du könntest klein anfangen. Ein Nachmittag ohne Arbeit. Ein Stück Kuchen ohne schlechtes Gewissen.“
Sie lachte durch die Tränen. „Ein Hund aus dem Tierheim?“ – „Vielleicht später“, sagte ich. „Wir teilen uns erst mal Bruno. Der hat genug Liebe für zwei.“
Heute, ein paar Monate später, hat sich mein Leben leise, aber gründlich verändert. Ich bin immer noch zweiundsiebzig. Meine Knie tun weh, wenn es regnet. Ich habe Falten, Altersflecken und brauche manchmal länger, um aus dem Sessel aufzustehen.
Aber ich habe einen Hund, der mich morgens mit kalter Nase weckt. Ich habe eine Tochter, die mich manchmal anruft und sagt: „Mama, ich habe heute etwas Verrücktes gemacht – ich war im Kino, ganz alleine.“ Und ich habe rote Schuhe, die im Flur stehen wie kleine Leuchttürme.
Manchmal sitze ich mit Lisa und Bruno im Café an der Ecke. Sie erzählt von der Arbeit, von den Sorgen, von Elternabenden. Ich erzähle von der Seniorentanzgruppe, der ich beigetreten bin, und von der Nachbarin, die auch Giraffenohrringe gekauft hat, weil sie fand, dass man mit siebzig nicht nur auf Geranien aufpassen sollte.
Die Welt da draußen bleibt eine Welt der Formulare, Versicherungen und gutgemeinten Ratschläge. Aber mein kleines Universum ist bunter geworden. Vielleicht nennen mich die Leute weiterhin wunderlich. Vielleicht machen sie Fotos, vielleicht rollen sie mit den Augen.
Ich weiß jetzt: Das ist nicht mein Problem.
Mein Problem wäre es, noch einmal siebzig Jahre zu leben und wieder zu denken: Ich habe gewartet, bis es zu spät ist.
Wenn ich morgens meinen Kaffee trinke, Bruno leise schnarcht und die Sonne ein bisschen auf meinen lila Federhut fällt, denke ich: Ich bin nicht ausgebrochen. Ich bin angekommen. In meinem eigenen Leben. Und das, finde ich, ist das Vernünftigste, was ich je getan habe.






