🐾 Teil 4: Spuren im Frost
Der Morgen war glasklar. Die Sterne standen noch am Himmel, als Martha die Haustür hinter sich zuzog. Die Kälte schnitt ins Gesicht, und jeder Atemzug kam als kleine Wolke zurück.
Der Schuppen war leer geblieben. Sie hatte ihn am Vorabend noch einmal kontrolliert, in der Hoffnung, Borax würde zurückkehren. Doch nur die Decken lagen dort, hart gefroren vom Frost.
Sie wusste, dass sie nicht warten konnte. Wenn er verletzt war, musste sie ihn finden, bevor es schlimmer wurde.
Ihr erster Weg führte sie zur Bushaltestelle, an der alles begonnen hatte.
Die Bank stand verlassen. Unter dem Mülleimer war ein schmaler Streifen unberührten Schnees, sonst nichts.
Sie ging weiter, folgte den Straßen Richtung Süden. Borax war immer aus dieser Richtung gekommen, also war es ein Anfang.
Nach einer halben Stunde kam sie an die alte Industriebrache am Rand der Stadt. Riesige Hallen, deren Dächer eingestürzt waren, Schornsteine wie stumme Türme.
Hier könnte sich ein Hund verstecken.
Sie rief nicht. Stattdessen hörte sie.
Nur das Knacken von Eis unter ihren Schuhen, ein leises Tropfen irgendwo im Dunkeln.
Zwischen den Trümmern entdeckte sie Spuren im Schnee. Große Pfotenabdrücke, die unregelmäßig verliefen, als hinke das Tier.
Sie folgte ihnen.
Die Spuren führten hinter eine Halle, wo ein alter Container stand. Daneben lag ein Haufen Schrott – verbogene Rohre, rostige Gitter.
Und da, zwischen den Metallteilen, eine Mulde im Schnee, als hätte sich dort jemand eingerollt.
Sie kniete sich hin, berührte das Eis. Kalt. Also war er schon vor Stunden weitergezogen.
Sie ging weiter, bis die Spuren im harten Schnee verschwammen. Am Rand eines verwachsenen Weges entdeckte sie plötzlich ein anderes Zeichen: ein abgebrochener Lederstreifen, vielleicht von einem Halsband.
Sie steckte ihn ein.
Gegen Mittag erreichte sie das kleine Viertel am Hafenbecken. Fischerboote lagen still im Eis, Netze hingen steif an den Relingen.
Vor einer Baracke stand ein alter Mann und hackte Holz. Er trug eine Pelzmütze, die ihm tief in die Stirn rutschte.
„Entschuldigen Sie“, rief Martha, „haben Sie hier einen Hund gesehen? Groß, grau-braun, mit einem hängenden Ohr.“
Der Mann hielt inne, stützte sich auf die Axt. „Vielleicht. Läuft manchmal hier rum. Frisst Fischabfälle. Aber er lässt niemanden nah ran.“
„Wissen Sie, wohin er geht?“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Er taucht auf und verschwindet wieder. Als ob er sein eigenes Revier hat.“
Sie bedankte sich und ging weiter.
Die Sonne stand tief, als sie wieder in der Nähe des Kanals war. Ihr Atem war schwer, die Füße taub.
Da hörte sie es.
Ein kurzes, raues Bellen.
Sie blieb stehen.
Noch einmal. Das Bellen kam aus einem Garten, hinter einer Reihe alter Lauben.
Sie schob das Gartentor auf. Kein Schloss. Der Schnee knirschte unter ihren Schritten, während sie vorsichtig zwischen den Lauben hindurchging.
Hinter der dritten Laube stand er.
Borax.
Er war magerer als beim letzten Mal. Seine Flanke hob und senkte sich schnell, die Pfote hielt er leicht angezogen.
„Da bist du ja“, flüsterte sie.
Er stand still, musterte sie, als prüfe er, ob er bleiben sollte oder nicht.
Sie zog das Fleisch aus der Tasche. Diesmal kam er schneller. Er fraß hastig, als hätte er seit Tagen nichts mehr bekommen.
Während er kaute, sprach sie leise weiter. „Ich habe die Frau deines alten Herrchens getroffen. Sie hat sich gefreut, dass du lebst.“
Er hob kurz den Kopf, als habe er verstanden.
Als er fertig war, versuchte sie, ihn zu streicheln. Er zuckte, blieb aber stehen. Ihre Hand glitt über das raue Fell, spürte die Wärme darunter.
„Wir müssen zum Arzt, Junge. Sonst wird das schlimmer.“
Sie überlegte.
Wenn sie jetzt wegginge, würde sie ihn vielleicht wieder verlieren.
Also tat sie etwas, das sie sich vorher nicht zugetraut hätte. Sie nahm den Schal von ihrem Hals, wickelte ihn locker um seinen Körper, hielt ihn sanft, aber bestimmt.
Er spannte sich an, knurrte leise, dann ließ er es geschehen.
Der Weg zum Tierarzt war lang. Sie hielt ihn nicht fest, sondern lief neben ihm, der Schal wie eine lose Verbindung zwischen ihnen.
Zweimal blieb er stehen, einmal versuchte er, in eine Seitenstraße zu laufen. Doch jedes Mal wartete sie, sprach ruhig, und er kam wieder zu ihr.
Als sie die Praxis erreichte, war es kurz vor vier. Dr. Hagedorn, ein hagerer Mann mit Brille, kam aus dem Behandlungsraum.
„Martha? Was haben wir denn da?“
„Ein Streuner. Verletzte Pfote. Er braucht Hilfe.“
Borax stand still, nur die Ohren zuckten.
„Bringen Sie ihn rein.“
Die Untersuchung war ruhig. Dr. Hagedorn sprach leise, bewegte sich langsam.
„Tiefe Schnittwunde. Wahrscheinlich von Metall. Ich reinige das, dann bekommt er Antibiotikum.“
Borax ließ es geschehen. Nur einmal knurrte er, als die Wunde gespült wurde.
„Er hat einen starken Körperbau“, meinte der Tierarzt. „Der hat draußen gelebt. Aber er ist erschöpft.“
„Kann er bleiben, bis er sich erholt?“ fragte Martha.
„Nicht lange. Er braucht einen ruhigen Ort. Jemanden, der sich kümmert.“
Sie nickte.
Als sie später wieder auf der Straße standen, war der Himmel dunkelblau. Borax ging neben ihr, langsamer, aber sicherer.
Sie führte ihn nicht zurück zum Schuppen. Stattdessen brachte sie ihn in ihre kleine Wohnung.
Es war eng, und sie hatte keine Hundedecke. Also legte sie zwei alte Wolldecken auf den Boden neben dem Ofen.
Er schnupperte in der Küche, trank Wasser, legte sich dann auf die Decken.
Martha setzte sich auf den Stuhl und sah ihm zu. Sein Atem wurde ruhig, gleichmäßig.
Zum ersten Mal seit Tagen spürte sie, wie die Anspannung aus ihr wich.
Draußen fiel wieder Schnee.
Im Zimmer war es warm, und der einzige Laut war das leise Schnauben des Hundes im Schlaf.
Martha wusste, dass dies nicht das Ende ihrer Suche war. Sie hatte vielleicht einen Teil seiner Geschichte gefunden, aber noch nicht alles.
Borax würde ihr zeigen, wohin der Rest führte.
Davon war sie sicher.
In dieser Nacht schlief sie ein mit dem Gefühl, dass der Hund an ihrer Seite nicht nur Zuflucht gesucht hatte, sondern auch etwas mitgebracht hatte, das sie noch nicht verstand.