Morgens um vier | Die Frau an der Bushaltestelle und der Hund, der ihre Vergangenheit kannte

🐾 Teil 5: Ein Zuhause auf Zeit

Der Ofen knisterte leise. Borax lag zusammengerollt auf den Decken, den Kopf auf den Vorderpfoten. Sein Atem ging gleichmäßig, nur ab und zu zuckte eine Pfote, als träumte er von einem Lauf durch den Schnee.

Martha stand am Fenster, eine Tasse Tee in den Händen. Sie sah hinaus auf die stille Straße, auf der nur selten ein Auto vorbeifuhr. Der Schnee fiel in dichten Flocken, legte sich wie ein neues Tuch über die alten Spuren.

Es war lange her, dass in ihrer Wohnung jemand anderes geatmet hatte außer ihr selbst.


Am Morgen öffnete sie vorsichtig die Küchentür. Borax hob den Kopf, blinzelte und gähnte weit. Er stand auf, streckte sich und ging ohne Eile zu seinem Wassernapf.

Martha stellte ihm eine Schüssel mit Haferflocken und etwas Fleisch hin. Er schnupperte kurz, dann fraß er langsam, als koste er jeden Bissen aus.

„Wir müssen heute ruhig machen, Junge. Die Wunde braucht Zeit.“

Er schien zuzuhören, setzte sich danach neben den Ofen und ließ sie gewähren, als sie die Mullbinde wechselte. Das warme Licht der Glühbirne fiel auf sein Fell, und sie bemerkte, wie die grauen Haare an seiner Schnauze glitzerten.


Die nächsten Tage verliefen still. Martha ging zur Arbeit, Borax blieb in der Wohnung. Sie ließ die Küchentür offen, und jedes Mal, wenn sie zurückkam, fand sie ihn an derselben Stelle vor dem Ofen, als hätte er ihr versprochen, nicht fortzulaufen.

Doch in seinen Augen lag etwas, das sie nicht deuten konnte. Es war kein reines Vertrauen. Eher ein stilles Warten.


An einem späten Nachmittag, als sie von der Arbeit kam, stand er nicht wie sonst an der Küchentür.
Sie fand ihn im Flur, sitzend, den Blick auf den Kleiderschrank gerichtet.

„Was ist da?“ fragte sie leise.

Sie öffnete den Schrank. Zwischen alten Mänteln und Kartons lag eine Pappschachtel, in der sie jahrelang Briefe und Fotos aufbewahrt hatte.

Borax schnüffelte daran, stupste mit der Nase gegen den Deckel.

Martha kniete sich hin, öffnete die Schachtel. Obenauf lag ein Stapel alter Schwarz-Weiß-Fotos. Menschen auf einer Kirmes, Kinder an der Oder, ihr verstorbener Mann in Arbeitskleidung.

Zwischen den Bildern steckte ein vergilbter Briefumschlag ohne Absender. Sie erinnerte sich nicht, ihn jemals geöffnet zu haben.

Neugierig zog sie den Brief heraus. Die Schrift war verblasst, aber lesbar. Es war ein kurzer Text, geschrieben an „Karl-Heinz Gundlach“.

Martha stockte der Atem.


Sie las die Zeilen noch einmal. Es war eine Einladung zu einer Versammlung eines Angelvereins am Hafenbecken. Datum: Frühjahr 1994 – wenige Wochen vor dem Tod von Karl-Heinz.

Sie setzte sich auf den Boden, den Brief in der Hand.
„Junge, du weißt mehr, als ich ahne“, sagte sie leise.

Borax legte sich neben sie, seinen Kopf an ihr Bein.


In den folgenden Tagen begann sie, Fragen zu stellen. Beim Bäcker, auf dem Weg zur Arbeit, im Altenheim. Manche erinnerten sich noch an Karl-Heinz, den stillen Bauarbeiter, der oft mit seinem Hund am Hafenbecken saß.

Ein älterer Bewohner im Heim, Herr Krüger, erzählte: „Der Hund war wie sein Schatten. Wenn der Mann da war, war der Hund da. Als der Mann starb, saß er noch tagelang am Hafen, bis jemand ihn wegtrieb.“

Martha hörte zu und spürte, wie sich in ihrem Inneren ein Bild zusammensetzte. Borax oder Bardo war kein Hund, der einfach umherstreifte. Er war jemandem treu geblieben, auch als niemand mehr darauf achtete.


Eines Abends, als sie die Wunde erneut versorgte, sah sie ihn lange an. „Vielleicht hast du noch einen Ort, zu dem du willst. Aber solange du hier bist, bist du sicher.“

Er legte sich später mit einem tiefen Seufzer auf die Decken, und sie bildete sich ein, dass er etwas von dieser Sicherheit verstanden hatte.


Am Sonntag entschied sie, zum Hafenbecken zu gehen. Borax lief neben ihr, vorsichtig, als wisse er, wohin sie wollte.

Das Eis knirschte unter ihren Schritten. Die Netze an den Booten waren starr vor Kälte, und der Wind trug den Geruch von Wasser und Metall.

Sie setzte sich auf eine niedrige Mauer. Borax blieb stehen, starrte auf eine Stelle zwischen zwei Bootsschuppen. Seine Ohren zuckten, sein Körper spannte sich an.

„Was ist da?“

Er lief langsam hin, schnupperte, setzte sich dann vor ein altes Holztor, dessen Farbe abgeblättert war.

Martha trat neben ihn. Das Tor war verschlossen, aber durch einen Spalt konnte sie einen Blick ins Innere werfen. Es war dunkel, nur schwaches Licht fiel durch ein Loch im Dach. Sie erkannte Umrisse – ein alter Tisch, Stühle, eine Kiste.

Borax blieb regungslos sitzen, als würde er warten.


Sie wollte gerade gehen, als sie hinter sich Schritte hörte.
Ein Mann mittleren Alters kam aus einem der Schuppen. Grobe Hände, wettergegerbtes Gesicht, ein dicker Wollpullover unter der Jacke.

„Kann ich helfen?“

„Ich… schaue nur. Mein Hund interessiert sich für diesen Ort.“

Der Mann blickte zu Borax, dann zurück zu ihr. „Den kenn ich. Der war oft hier, früher. Mit Karl-Heinz. Sie haben manchmal hier geangelt.“

„Kennen Sie diesen Ort?“

Der Mann nickte. „Das Tor gehört seit Jahren niemandem mehr. Aber… wenn der Hund hier sitzt, erinnert er sich vielleicht an etwas.“

Borax stand noch immer dort, die Nase zum Spalt gerichtet.


Auf dem Heimweg war er unruhiger als sonst, blickte sich mehrmals um, blieb stehen, als wolle er zurück.

In der Wohnung legte er sich nicht sofort hin. Stattdessen lief er zwischen Küche und Flur, als suche er etwas.

Martha setzte sich, sah ihm zu.
Es war, als hätte der Besuch am Hafen etwas in ihm geweckt, das ihn nicht mehr losließ.

Sie wusste, dass sie zurückkehren musste. Vielleicht lag in diesem Schuppen ein Teil seiner Geschichte oder etwas, das erklären konnte, warum er immer noch lief.


In der Nacht wachte sie einmal auf, weil sie glaubte, ein leises Kratzen an der Wohnungstür zu hören. Als sie aufstand und den Flur betrat, lag Borax nicht mehr auf seinen Decken.

Die Küchentür stand einen Spalt offen.


Als sie vorsichtig hinaustrat, sah sie nur noch die frischen Pfotenabdrücke im Schnee und wusste, dass er diesmal nicht auf sie gewartet hatte.

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