Morgens um vier | Die Frau an der Bushaltestelle und der Hund, der ihre Vergangenheit kannte

🐾 Teil 6: In der Kälte der Nacht

Der Schnee knirschte unter ihren Pantoffeln, als Martha vorsichtig vor die Haustür trat. Die Kälte biss sofort in ihre Haut, doch sie achtete nicht darauf.

Im matten Licht der Straßenlaterne konnte sie die Pfotenabdrücke klar sehen. Frisch, tief im Schnee, führten sie von ihrer Haustür weg und bogen gleich hinter der Ecke ab.

Sie kehrte kurz zurück, zog Mantel und Stiefel an, nahm die Taschenlampe aus der Küchenschublade. Der kalte Griff lag fest in ihrer Hand, als sie erneut hinaustrat.


Die Spur führte durch die schmale Gasse zwischen den Häusern. Der Schnee glitzerte, der Wind trug das entfernte Knacken von Ästen herüber.

Martha leuchtete mit der Taschenlampe auf den Boden. Die Abdrücke waren unregelmäßig, die rechte Hinterpfote zog leicht. Er lief also nicht einfach nur, er humpelte.

„Borax“, flüsterte sie in die Nacht, ohne zu erwarten, dass er antworten würde.

Hinter der Gasse führte der Weg zum Kanal. Dort war der Schnee weniger dicht, verweht vom Wind, und die Spuren wurden schwächer.

Sie blieb stehen, lauschte.

Ein fernes, gedämpftes Bellen.


Sie ging in die Richtung des Lauts, vorbei an der stillgelegten Fabrik, deren Fenster wie schwarze Augenhöhlen wirkten. Der Wind blies stärker, wirbelte Schnee auf, der ihre Sicht verschwimmen ließ.

Das Bellen kam wieder, diesmal deutlicher, von der Seite. Hinter einem halb verfallenen Zaun lag ein alter Garten, überwuchert, mit einer umgestürzten Laube.

Sie öffnete das quietschende Gartentor und trat ein. Die Lampe tastete über den Boden, über das Gestrüpp, bis sie ihn sah.

Borax stand am Rand der Laube, die Nase tief in einer Spalte im Boden. Er kratzte, zog, schnüffelte, als würde er etwas herauszerren wollen.

„Junge… was machst du hier?“

Sie ging langsam auf ihn zu. Als er sie bemerkte, wich er nicht zurück, sondern sah sie an – wach, als hätte er sie erwartet.


Sie kniete sich neben ihn, leuchtete in die Spalte. Etwas Metallisches blitzte im Licht auf.

Mit den Fingern tastete sie hinein und zog ein verrostetes Halsband hervor. Das Leder war brüchig, die Schnalle fast zerfallen. Daran hing ein kleiner, runder Anhänger.

Sie wischte den Schnee ab. Darauf war eingraviert: Bardo – Hafenbecken 3.

Ihr Herz schlug schneller.

Borax schnüffelte an dem Halsband, stieß ein tiefes, kehliges Geräusch aus. Es war kein Knurren, eher ein Laut, der wie eine Erinnerung klang.

„Das gehört dir, nicht wahr?“

Er senkte den Kopf, als hätte er verstanden.


Sie steckte das Halsband in ihre Manteltasche. „Komm, wir gehen heim. Es ist zu kalt.“

Doch er rührte sich nicht. Stattdessen lief er ein paar Schritte zur Rückseite der Laube, drehte sich um und wartete, bis sie ihm folgte.

Dort, halb unter dem Schnee, lag eine Kiste. Sie war schwer, und es dauerte, bis Martha den Deckel angehoben hatte. Darin lagen alte Angelruten, ein verbeulter Kocher, und ein zusammengerolltes Wachstuch.

Sie zog das Tuch heraus, und zum Vorschein kam ein Stapel vergilbter Zeitungsseiten, sorgfältig zusammengebunden.

„Was ist das, Borax?“

Der Hund stand still, nur sein Atem dampfte in der Kälte.


Martha nahm den Fund unter den Arm. Der Schnee begann stärker zu fallen, und sie wusste, dass sie hier nicht länger bleiben konnte.

Der Rückweg war mühsam. Der Wind blies ihr ins Gesicht, und Borax blieb immer wieder stehen, um in die Dunkelheit zurückzublicken.

Als sie die Haustür erreichten, war ihr Gesicht taub vor Kälte.

Drinnen zog sie Mantel und Stiefel aus, legte das Halsband und die Zeitungen auf den Tisch. Borax legte sich auf seine Decken, aber er hielt die Augen offen, als wolle er sicherstellen, dass sie die Dinge nicht fortlegte.


Sie setzte sich, wickelte das Wachstuch auf und löste die Schnur um die Zeitungen. Die oberste Seite war von Mai 1994.

Die Schlagzeile berichtete von einem Unglück am Hafenbecken. Ein Bauarbeiter war ins Wasser gestürzt und ertrunken. Der Name stand da: Karl-Heinz Gundlach.

Martha starrte auf die Zeilen.
Neben dem Artikel war ein kleines Foto – unscharf, aber erkennbar: Ein Mann in Arbeitskleidung mit einem Hund an seiner Seite.

Borax. Jünger, kräftiger, aber eindeutig er.


Sie blätterte weiter. Weitere Artikel, kleine Meldungen über den Fund eines toten Mannes, eine kurze Notiz, dass der Hund verschwunden sei.

Ihre Hände zitterten. All das hatte er die ganze Zeit in sich getragen. Kein Mensch hätte es erzählen können, aber er hatte es irgendwie gezeigt mit den Orten, an die er ging, mit dem, was er ausgrub.

„Du bist nicht einfach nur gelaufen“, flüsterte sie. „Du bist zurückgegangen.“

Borax sah sie lange an. Seine Augen waren dunkel, und sie wusste, dass dort etwas war, das sie nie ganz verstehen würde.


Es war spät in der Nacht, als sie die Zeitung wieder zusammenrollte. Sie legte sie zurück in das Wachstuch, legte das Halsband obendrauf.

„Morgen gehen wir zum Hafenbecken 3.“

Borax legte den Kopf ab, als hätte er auf diese Worte gewartet.


Doch in den frühen Morgenstunden weckte sie ein Geräusch. Ein dumpfer Schlag, gefolgt von Schritten vor dem Haus.

Sie trat ans Fenster. Im Schnee vor ihrer Haustür standen frische Abdrücke, keine von Borax, sondern von Stiefeln. Sie führten bis zur Tür und dann wieder weg.

Auf der Bank an der Bushaltestelle gegenüber lag etwas Dunkles.


Als sie hinausging und es aufhob, spürte sie sofort, dass es nicht für sie gedacht war und dass jemand anderes längst wusste, dass sie nach Antworten suchte.

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