🐾 Teil 7: Der Mann an der Bushaltestelle
Das Dunkle auf der Bank war ein Stück Stoff. Rau, schwer, feucht vom Schnee. Martha nahm es in die Hand und schüttelte den Schnee ab. Es war eine alte Arbeitshandschuhhälfte, das Leder rissig, an den Fingerkuppen abgewetzt.
Im Inneren steckte ein Zettel, gefaltet und vom Frost steif. Sie öffnete ihn vorsichtig. Die Schrift war uneben, als hätte jemand mit kalter Hand geschrieben: „Nicht alle Geschichten wollen gefunden werden.“
Martha stand still, das Papier in der Hand. Der Wind trug den Geruch von Rauch aus einem Schornstein herüber, aber sie spürte nur den kühlen Druck dieser Worte.
Drinnen legte sie den Handschuh neben das Halsband und die zusammengebundenen Zeitungen. Borax kam heran, schnupperte an dem Leder und wich dann einen Schritt zurück, als erkenne er den Geruch.
„Kennst du den?“ fragte sie leise.
Der Hund setzte sich und blickte zur Tür. Seine Ohren waren aufgestellt, der Blick wachsam.
Am Vormittag nahm sie den Handschuh mit ins Altenheim. Vielleicht erinnerte sich jemand an den Geruch oder die Machart. Im Aufenthaltsraum saß Herr Krüger, derselbe, der ihr von Karl-Heinz erzählt hatte.
„Darf ich Ihnen das mal zeigen?“
Er nahm den Handschuh, drehte ihn in den Händen. „Das ist ein Handschuh aus dem Hafenlager. Die hatten die Arbeiter dort. Den Geruch von Fischöl und Metall kriegt man nie mehr raus.“
„Und wer könnte so etwas heute noch tragen?“
„Vielleicht einer von den Alten, die noch dort arbeiten. Es gibt nicht mehr viele. Manche wohnen noch unten am Hafen.“
Nach Feierabend ging Martha dorthin. Der Schnee war unter der Sonne hart geworden, knirschte bei jedem Schritt. Am Hafenbecken lagen nur zwei Boote, festgefroren im Eis.
Ein Mann in einer dicken Wollmütze stand an einem Poller und rauchte. Er war groß, die Schultern breit, die Bewegungen langsam.
„Entschuldigen Sie“, begann Martha, „kennen Sie diesen Handschuh?“
Er warf einen Blick darauf und verzog den Mund. „Der gehört Ralf. Dem gehört der alte Schuppen bei Nummer drei.“
„Hafenbecken drei?“
„Ja. Sie finden ihn meist am Nachmittag dort. Aber passen Sie auf, der hat nicht gern Besuch.“
Sie ging langsam weiter, den Weg entlang, den Borax am anderen Tag so aufmerksam betrachtet hatte. Die Holztür des Schuppens stand einen Spalt offen.
Drinnen roch es nach feuchtem Holz, Öl und kalter Asche.
Ein Mann saß an einem Tisch, der Handschuh lag vor ihm – das Gegenstück zu dem, den sie in der Hand hielt.
Er hob den Kopf. Die Augen waren hell, aber misstrauisch. „Sie sind die Frau mit dem Hund.“
„Ja. Er heißt Borax. Vielleicht kennen Sie ihn als Bardo.“
Ein Schatten huschte über sein Gesicht. „Der Hund hat hier nichts mehr zu suchen.“
„Er sucht. Und ich auch.“
„Manche Dinge sollte man lassen.“
Sie setzte sich auf den Rand eines Stuhls. „Er hat mich hierher geführt. Er hat das Halsband gefunden, er hat die Zeitungen ausgegraben. Das war kein Zufall.“
Der Mann schwieg, sah zur Tür, als würde er prüfen, ob jemand lauschte.
„Karl-Heinz war mein Freund“, sagte er schließlich. „Wir haben hier gearbeitet. Er… er ist nicht einfach gefallen. Er wusste etwas, das andere nicht wissen sollten. Und der Hund war dabei.“
„Was hat er gesehen?“
„Das sollten Sie nicht wissen. Sie haben kein gutes Ende, wenn Sie weitersuchen.“
Martha wollte etwas erwidern, doch Borax bellte kurz draußen. Der Mann stand auf, trat hinaus. Sie folgte ihm.
Borax stand steif, den Blick auf eine Gestalt gerichtet, die am Rand des Hafenbeckens stand. Ein schlanker Mann im dunklen Mantel, der ihnen den Rücken zuwandte.
Als er sich umdrehte, traf sie ein Blick, der kalt und wach war. Dann ging er, ohne ein Wort zu sagen, den schmalen Weg zwischen den Bootsschuppen hinunter, bis er in der Dämmerung verschwand.
„Wer war das?“ fragte sie den Mann neben sich.
„Jemand, der nicht will, dass Sie mehr erfahren.“
Sie nahm Borax und ging heim, den Handschuh noch in der Manteltasche. In ihrer Wohnung legte sie ihn neben den anderen.
Das Feuer im Ofen brannte, aber die Wärme drang nicht in sie. Der Gedanke an den fremden Mann am Hafen ließ sie nicht los.
Sie wusste, dass sie jetzt zu tief in etwas hineingeraten war, das nicht nur den Hund betraf.
In dieser Nacht wachte sie auf, weil Borax leise knurrte. Er stand am Fenster, den Blick auf die Straße gerichtet.
Draußen im Schnee lag ein neuer Gegenstand.
Als sie hinaustrat und ihn aufhob, spürte sie, dass dies keine Warnung mehr war, sondern eine Einladung.