🐾 Teil 8: Die Einladung
Der Gegenstand im Schnee war ein alter Kompass. Das Messing war stumpf, die Glasabdeckung leicht gesprungen. Auf der Rückseite war etwas eingeritzt: „Hafen 3 – bei Ebbe“.
Martha hielt ihn im Licht der Straßenlaterne und spürte, wie sich etwas in ihrem Inneren zusammenzog. Es war keine plumpe Drohung wie die vorherige Nachricht. Es war eine Wegbeschreibung.
Borax stand neben ihr, den Blick zum Hafen gerichtet, als hätte er verstanden, wohin sie gehen musste.
Am Morgen saß sie mit einer Tasse Kaffee am Küchentisch, der Kompass lag neben dem Halsband und den Zeitungen. Ihre Finger fuhren über die Gravur. Ebbe. In dieser Jahreszeit war die Oder bei starkem Frost fast unbeweglich, aber der Wasserstand am Hafenbecken konnte trotzdem fallen, wenn Schleusen geöffnet wurden.
Sie beschloss zu warten, bis die Mittagsruhe über die Stadt fiel und weniger Menschen am Hafen unterwegs waren.
Kurz nach zwölf machte sie sich auf den Weg. Borax ging an ihrer Seite, die rechte Hinterpfote belastete er wieder etwas mehr, doch sein Gang war wachsam. Der Himmel war grau, der Schnee knirschte, und aus der Ferne kam das tiefe Dröhnen eines Schiffsmotors.
Am Hafenbecken war es still. Die Schuppen warfen lange Schatten, und an den Pollern hingen gefrorene Seile wie schwere Stricke.
Sie ging zu Nummer drei. Das Tor war geschlossen, aber an der Seite führte ein schmaler Pfad hinunter zum Wasser. Dort, wo die Eisschicht aufbrach, zog sich das Wasser langsam zurück.
Borax blieb stehen, die Nase in den Wind. Dann lief er vor, den Pfad hinunter, bis er an einer alten Holzplattform stehen blieb, halb verfallen, die Planken vom Wasser ausgefranst.
Zwischen den Planken war etwas eingeklemmt. Sie kniete sich hin, zog an einem kleinen Leinensack, der feststeckte. Das Holz ächzte, doch schließlich löste er sich.
Der Sack war nass und schwer. Sie öffnete ihn vorsichtig. Darin lagen drei Dinge: ein Schlüsselbund, ein zusammengefaltetes Notizbuch und ein verblichenes Foto.
Das Foto zeigte Karl-Heinz, einen weiteren Mann, den sie nicht kannte, und Borax, jung und kräftig, am Rand eines Bootes.
Das Notizbuch war klamm, die Schrift darin teilweise verschmiert, doch manche Seiten waren noch lesbar. Zwischen Zahlenkolonnen und Skizzen von Booten stand ein Satz, der sich ihr einbrannte: „Wenn mir etwas passiert, sucht im Schuppen bei 3.“
Sie steckte alles in ihre Tasche. In diesem Moment hörte sie Schritte hinter sich. Schwer, langsam, näherkommend.
Sie drehte sich um. Es war der Mann mit der Wollmütze, den sie schon einmal am Hafen gesehen hatte. Er blieb auf halbem Weg stehen, sah sie lange an, dann auf Borax.
„Sie haben etwas gefunden“, sagte er. Es war keine Frage.
„Ja“, antwortete sie, ohne den Sack aus der Hand zu legen.
Er trat näher, bis sie den Geruch von Tabak und kaltem Metall roch. „Das gehört nicht Ihnen.“
„Es gehörte Karl-Heinz. Und ich glaube, es gehört auch zu der Geschichte, die Sie alle verschweigen.“
Sein Blick verengte sich. „Manchmal ist Schweigen sicherer. Für alle.“
Borax stellte sich zwischen sie und den Mann. Sein Fell sträubte sich leicht, aber er knurrte nicht. Er stand einfach da, fest und unbeweglich.
„Nehmen Sie den Hund und gehen Sie nach Hause“, sagte der Mann. „Vergessen Sie, was Sie gesehen haben.“
„Das kann ich nicht.“
Er sah sie lange an, dann drehte er sich um und ging, ohne ein weiteres Wort.
Auf dem Heimweg hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Mehrmals drehte sie sich um, sah aber niemanden.
In der Wohnung legte sie den Sack auf den Tisch, breitete den Inhalt aus. Der Schlüsselbund bestand aus vier Schlüsseln, unterschiedlich groß, einer davon alt und verrostet. Das Notizbuch legte sie zum Trocknen an den Ofen.
Das Foto stellte sie vor sich. Borax kam heran, schnupperte daran, leckte einmal über den Rand.
„Das ist lange her, was?“ flüsterte sie.
Er legte sich neben den Tisch, als wolle er den Fund bewachen.
Am Abend dachte sie darüber nach, was im Notizbuch stand. „Sucht im Schuppen bei 3.“ Der Schuppen war verschlossen, und der Mann mit der Wollmütze hatte eindeutig kein Interesse daran, dass sie hinein ging.
Vielleicht gehörte einer der Schlüssel zu diesem Tor.
Sie nahm den Schlüsselbund in die Hand, wog ihn. Borax hob den Kopf, als wüsste er, was sie vorhatte.
Die Nacht war frostig. Der Mond stand über den Dächern, als sie die Tasche mit dem Schlüsselbund griff, den Mantel anzog und leise die Wohnung verließ. Borax lief dicht hinter ihr.
Die Straßen waren leer, nur ihre Schritte und das ferne Knacken von Eis waren zu hören. Am Hafen lag ein silbriger Glanz auf dem Wasser, das unter der dünnen Eisschicht noch träge floss.
Sie stand vor dem Tor des Schuppens bei Nummer drei. Der erste Schlüssel passte nicht, der zweite auch nicht. Beim dritten glitt das Schloss mit einem dumpfen Klick auf.
Sie atmete tief durch, schob das Tor auf.
Drinnen roch es nach altem Holz, Öl und kaltem Eisen. Staub hing in der Luft, und im schwachen Mondlicht erkannte sie die Umrisse alter Kisten, eines umgestürzten Stuhls und eines Tisches, auf dem etwas lag.
Sie trat näher.
Es war ein Umschlag. Groß, aus festem Papier, ohne Beschriftung. Sie öffnete ihn. Darin lagen mehrere Dokumente und ein zweites Foto.
Dieses zeigte Karl-Heinz mit zwei Männern. Einer davon war der Fremde, den sie am Hafen gesehen hatte.
Und am Rand des Bildes, fast abgeschnitten, war eine Person, die sie nur zu gut kannte.
Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie erkannte, dass das Gesicht am Bildrand ihr eigenes war – aufgenommen vor vielen Jahren, an einem Tag, an den sie sich nicht erinnern konnte.