🐾 Teil 9: Das vergessene Gesicht
Martha starrte auf das Foto. Ihr eigenes Gesicht, jünger, das Haar dunkler, der Blick ernst. Sie stand am Rand der Szene, als sei sie nur zufällig im Bild und doch war sie Teil davon.
Sie erinnerte sich nicht an diesen Tag. Nicht an den Moment, nicht an die Kleidung, die sie auf dem Foto trug. Die Männer wirkten vertraut, und doch konnte sie keinen Namen außer Karl-Heinz nennen.
Borax stand neben ihr, die Ohren nach vorn gerichtet, als spürte er ihre Unruhe.
Sie setzte sich auf den staubigen Boden des Schuppens, das Foto in der Hand. Die Dokumente im Umschlag rochen nach feuchtem Papier. Manche waren Rechnungen für Baumaterial, andere Listen mit Namen und Zahlen.
Einer dieser Namen stach hervor: Martha Kelling. Ihre eigene Unterschrift stand darunter, schwungvoll, sicher. Daneben ein Datum: April 1994.
Sie fühlte, wie sich der Boden unter ihr zu verschieben schien.
Warum sollte sie damals etwas unterschrieben haben, das mit dem Hafen zu tun hatte?
Sie versuchte, den Moment zurückzurufen. 1994 – da war sie Anfang fünfzig, ihr Mann lebte noch. Sie hatte nicht am Hafen gearbeitet, sondern in der Schule geputzt. Der Hafen war für sie ein ferner Ort, nur aus Spaziergängen bekannt.
Borax legte sich neben sie, sein Kopf berührte ihr Knie. Der Kontakt war fest und beruhigend, wie ein Anker in einem Meer aus Fragen.
Plötzlich hörte sie draußen Schritte. Nicht eilig, sondern gemessen, als wüsste jemand genau, dass sie hier war.
Sie stand auf, steckte Foto und Dokumente zurück in den Umschlag. Borax richtete sich auf, sein Körper angespannt.
Das Tor bewegte sich, und ein Mann trat ein. Es war nicht der mit der Wollmütze, sondern der Fremde vom Hafen – der mit dem kalten Blick.
„Sie haben etwas, das mir gehört“, sagte er ruhig.
„Ich habe etwas, das Antworten verlangt.“
Er kam näher, die Hände in den Taschen, als hätte er keine Eile. „Antworten sind nicht immer das, was Sie wollen. Manchmal bringen sie mehr Dunkelheit als Licht.“
Borax trat einen Schritt vor, und der Mann blieb stehen. „Dieser Hund hat zu lange herumgestreunt. Er trägt zu viel Erinnerung mit sich.“
„Er trägt die Wahrheit“, entgegnete Martha.
Ein kurzer Schatten huschte über das Gesicht des Mannes. „Karl-Heinz war ein guter Arbeiter. Aber er konnte nicht still sein. Und Menschen, die nicht still sind, stürzen manchmal, wie von selbst.“
Marthas Herz pochte laut in ihren Ohren. „Und ich? Was habe ich damals getan?“
Er lächelte schmal. „Sie waren Zeugin. Ohne es zu wissen. Oder vielleicht wollten Sie es vergessen.“
Die Kälte im Schuppen drang bis in ihre Hände. Sie spürte den Umschlag in der Tasche, schwer wie ein Stein.
„Warum bin ich auf diesem Foto?“
„Weil Sie dort waren, als es geschah. Und der Hund lief damals schon an Ihrer Seite.“
Martha schüttelte den Kopf. „Das stimmt nicht. Ich habe Borax erst vor einem Jahr gesehen.“
Der Mann trat näher, und für einen Moment meinte sie, ein Zittern in seiner Stimme zu hören. „Hunde vergessen nicht. Und manche Wege führen immer wieder zurück.“
Er machte einen Schritt auf sie zu. Borax spannte den Körper, knurrte leise.
„Geben Sie mir die Unterlagen“, sagte der Mann.
„Nein.“
Sein Blick verhärtete sich. „Dann wird der Hund dafür bezahlen.“
In diesem Moment sprang Borax vor. Nicht aggressiv, sondern so, dass er zwischen sie und den Mann geriet. Martha wich zurück, ihre Hand fest um den Umschlag.
„Gehen Sie“, sagte sie, „bevor ich mit den Unterlagen zur Polizei gehe.“
Der Mann sah sie lange an, dann drehte er sich um und verließ den Schuppen. Seine Schritte im Schnee wurden leiser, bis sie verschwanden.
Martha kniete sich neben Borax, legte die Hand auf seinen Nacken. „Du bleibst bei mir. Egal, was sie wollen.“
Sie verließ den Schuppen, schloss das Tor hinter sich und steckte den Schlüssel in die Tasche. Der Umschlag brannte förmlich in ihrer Hand.
Der Weg nach Hause führte durch den stillen Hafen. Das Eis im Becken knisterte leise unter der Kälte, und irgendwo schlug ein loses Seil gegen einen Mast.
Zu Hause breitete sie die Dokumente erneut auf dem Tisch aus. Die Unterschrift war zweifellos ihre, die Schriftzüge vertraut. Aber sie wusste nicht mehr, was sie damals unterzeichnet hatte.
Das Foto legte sie daneben. Borax setzte sich davor, als müsse er es bewachen.
Sie dachte an die Worte des Mannes: Zeugin, ohne es zu wissen.
War sie damals am Hafen, zufällig oder mit Absicht? Hatte sie etwas gesehen, das sie verdrängt hatte?
Die Nacht brachte keinen Schlaf. Jede Bewegung von Borax neben seinem Platz ließ sie aufhorchen. Sie dachte an den Kompass, das Halsband, die Zeitungen, den Handschuh. Alles fügte sich zu einem Muster, das noch nicht klar war.
Und doch wusste sie eines: Die Verbindung zwischen ihr und Borax reichte tiefer als das Jahr, in dem sie ihn zum ersten Mal an der Bushaltestelle gesehen hatte.
Kurz vor Morgengrauen stand sie auf, zog den Mantel an. Sie wollte zum Hafen zurück, bevor andere dort waren. Der Frost lag wie Glas auf der Straße, und der Himmel begann gerade, sich in ein blasses Grau zu färben.
Borax lief dicht bei ihr, seine Schritte lautlos im Schnee.
Am Hafen war es still. Sie ging direkt zu Nummer drei, öffnete das Tor erneut und trat ein. Der Schuppen roch noch immer nach kaltem Holz und Metall.
Hinter dem Tisch, an dem der Umschlag gelegen hatte, entdeckte sie jetzt eine Falltür.
Als sie den Riegel zur Seite schob und die Falltür öffnete, stieg ihr ein Geruch entgegen, der nach vielen Jahren noch immer den Atem nahm und ihr klar machte, dass hier unten etwas verborgen lag, das alles verändern würde.