🐾 Teil 10: Was bleibt
Der Geruch aus der Dunkelheit unter der Falltür war eine Mischung aus feuchtem Holz, Rost und etwas Altem, das wie abgestandene Zeit roch. Martha hielt die Taschenlampe in die Öffnung und sah eine schmale Treppe, deren Stufen feucht glänzten.
Borax stand dicht neben ihr, die Ohren nach hinten gelegt, doch er wich nicht zurück.
„Wir gehen nur kurz runter, Junge“, flüsterte sie, mehr zu sich selbst als zu ihm.
Die Stufen knarrten, als sie hinabstieg. Unten öffnete sich ein niedriger Raum, kaum höher als ihre Schultern. Das Licht ihrer Lampe glitt über alte Kisten, verrostete Werkzeuge und einen Tisch, auf dem etwas lag, in Tücher eingeschlagen.
Sie trat näher und zog das erste Tuch beiseite. Darunter lagen weitere Dokumente, sauber gestapelt, und ein kleines Notizbuch, ähnlich dem, das sie im Leinensack gefunden hatte. Daneben ein Metallkästchen mit einem einfachen Vorhängeschloss.
Der Schlüsselbund in ihrer Tasche fühlte sich plötzlich schwerer an. Sie probierte einen der kleinen Schlüssel, und das Schloss sprang auf.
Im Kästchen lag ein Bündel Geld, vergilbte Quittungen und mehrere Fotografien. Auf den Bildern sah sie Karl-Heinz mit denselben Männern wie auf dem ersten Foto und wieder war sie am Rand zu sehen.
Diesmal erkannte sie den Ort. Es war die kleine Wiese hinter dem Schuppen, an einem Frühlingstag. Sie hatte damals ein Tablett mit Gläsern getragen, als sie zufällig am Hafen vorbeikam. Ihr Mann hatte dort gearbeitet, und sie war gekommen, um ihm etwas zu bringen.
Plötzlich kamen die Erinnerungen zurück wie Wasser, das sich Bahn bricht. Sie hatte gesehen, wie Karl-Heinz mit den Männern stritt. Wie einer von ihnen ihn am Arm packte. Dann war Borax dazwischengegangen, bellend, zähnefletschend. Sie erinnerte sich an das Platschen, an das Schreien und daran, wie ihr Herz raste.
Sie wusste jetzt, warum sie das vergessen hatte. Manches verdrängt der Verstand, um das Herz zu schützen.
Borax hatte damals versucht, seinen Herrn zu retten. Und als er es nicht konnte, war er geblieben. Jahre lang, an derselben Stelle, wartend.
Martha strich ihm über den Kopf. „Du hast ihn nicht vergessen. Und jetzt verstehe ich, warum du nicht einfach weitergehst.“
In einer der Kisten fand sie ein altes Schild mit verblasster Schrift: „Eigentum Hafenverwaltung“. Darunter klebte ein Zettel mit einer Liste von Namen. Zwei davon erkannte sie aus den Dokumenten. Einer war der Mann mit der Wollmütze, der andere der Fremde mit dem kalten Blick.
Das Bild wurde klarer: Karl-Heinz hatte etwas entdeckt, vielleicht Unregelmäßigkeiten, vielleicht Diebstähle. Die Männer hatten ihn zum Schweigen bringen wollen. Sie selbst war zufällig Zeugin geworden und Borax hatte alles mit angesehen.
Sie nahm die wichtigsten Dokumente, das Kästchen und das Notizbuch an sich. Dann verließ sie den Keller, schloss die Falltür und den Schuppen hinter sich ab.
Auf dem Heimweg war der Himmel aufgeklart. Der Schnee glitzerte, und der Atem von ihr und Borax stieg in kleinen Wolken auf.
Zu Hause legte sie alles auf den Küchentisch. Der Umschlag, das Kästchen, die Fotos – es war mehr als nur Beweise. Es war ein Stück Vergangenheit, das zu lange im Dunkeln gelegen hatte.
Sie setzte sich und überlegte. Zur Polizei gehen? Den Männern direkt gegenübertreten?
Borax lag neben ihr, die Augen auf sie gerichtet. Sie wusste, dass es nicht nur um Gerechtigkeit ging. Es ging darum, diesen Hund aus dem Kreis seiner Erinnerungen zu befreien.
Am nächsten Tag suchte sie Herrn Krüger im Altenheim auf. Er war überrascht, sie so früh zu sehen. Sie erzählte ihm alles, zeigte die Fotos und die Dokumente.
Er hörte still zu, seine Hände auf dem Stock. Als sie geendet hatte, nickte er langsam. „Es wird Zeit, dass jemand darüber spricht. Aber seien Sie vorsichtig. Diese Männer haben lange geschwiegen und sie wollen es weiter tun.“
Sie ging nicht direkt zur Polizei. Zuerst brachte sie Kopien der wichtigsten Unterlagen zu einer alten Freundin in Frankfurt (Oder), die früher bei der Zeitung gearbeitet hatte. „Wenn mir etwas passiert, gehst du damit raus“, sagte sie. Die Freundin nickte ernst.
Erst danach trat sie mit den Papieren in der Hand ins Polizeirevier.
Die Tage danach waren angespannt. Zweimal sah sie den Mann mit der Wollmütze am Ende ihrer Straße stehen, einmal sogar den Fremden mit dem kalten Blick. Doch sie wusste, dass sie jetzt nicht mehr allein war. Die Polizei hatte die Unterlagen, und ihre Freundin die Kopien.
Borax wich in diesen Tagen kaum von ihrer Seite. Er schlief in der Küche, aber immer mit einem Ohr in ihre Richtung.
Eine Woche später stand sie wieder an der Bushaltestelle. Es war früh, vier Uhr zwölf, wie damals, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Der Platz wirkte anders. Nicht leer, sondern abgeschlossen.
Borax saß neben ihr, die Pfote leicht an ihrem Bein.
„Weißt du, Junge“, sagte sie leise, „du hast gewartet. Länger, als es ein Mensch jemals könnte. Jetzt darfst du weitergehen.“
Er sah sie an, und für einen Moment meinte sie, ein Funkeln in seinen Augen zu sehen, das nicht nur vom Schnee kam.
Im Frühling war der Prozess gegen die beiden Männer vorbei. Die Beweise hatten gereicht, um die Wahrheit über Karl-Heinz’ Tod ans Licht zu bringen.
Martha stand mit Borax am Hafenbecken, an dem das Eis längst geschmolzen war. Die Netze hingen weich im Wind, das Wasser glitzerte.
„Wir haben es geschafft“, flüsterte sie.
Borax schnupperte in die Luft, als prüfe er, ob der Ort endlich frei war von dem, was ihn so lange gebunden hatte. Dann setzte er sich an ihre Seite.
Von diesem Tag an ging er nicht mehr allein an die Bushaltestelle. Er schlief gern im warmen Sonnenlicht vor dem Fenster oder folgte ihr gemächlich zum Altenheim.
Die Menschen kannten ihn inzwischen, grüßten ihn auf der Straße, und Martha merkte, wie er sich in diesem neuen Leben niederließ, ohne die ständige Wachsamkeit in den Augen.
Eines Abends saß sie in ihrer Küche, das alte Foto in der Hand. Sie sah die jüngere Frau am Rand des Bildes und dachte an all die Jahre, die dazwischenlagen.
Borax lag zu ihren Füßen. Sie beugte sich hinunter, legte ihre Hand auf seinen Kopf. „Du hast mich gefunden, als ich nicht wusste, dass ich gesucht werde.“
Er schloss die Augen, und sie wusste, dass sie beide nun einen Platz hatten, an dem sie bleiben konnten.
Und während draußen der Abend sich über die Stadt legte, wusste Martha, dass manche Begegnungen kein Zufall sind, sondern der Weg, den das Schicksal nimmt, um uns heimzubringen.