Als ich am nächsten Morgen die Küchentür öffnete, lag ein Umschlag auf der Fußmatte. Kein Absender, nur meine Handschrift auf dem Etikett vom Briefkasten: „Karoline“. Für einen Moment glaubte ich, ich hätte ihn mir eingebildet, so wie man sich manchmal Geräusche einbildet, wenn das Haus zu still ist.
Lotte stand neben mir und schnupperte kurz daran, als hätte sie die Gewohnheit, schlechte Nachrichten zu prüfen, bevor sie sie ins Haus lässt. Dann setzte sie sich, schwer und gelassen, als würde sie sagen: Lies, aber atme dabei.
Im Umschlag lag eine Postkarte. Toskana. Sonnengelb. Ein überfüllter Marktplatz, Menschen mit Weingläsern in der Hand, Gesichter, die nach „Leben!“ aussehen sollten. Auf der Rückseite nur ein Satz, in Wilhelms krakeliger Schrift: „Du hattest recht.“
Ich starrte auf diese drei Worte, als wären sie ein Fremdwort. Nicht, weil ich sie nicht verstand, sondern weil ich nicht wusste, wohin ich sie in mir legen sollte. Rache hatte ich keine mehr, Triumpf auch nicht. Nur dieses komische, leise Ziehen in der Brust, das man hat, wenn etwas zu spät kommt und trotzdem Gewicht hat.
Ich stellte Wasser für Tee auf, schnitt Brot vom Vortag, und während die Scheiben knackten, erinnerte ich mich an seinen Rollkoffer auf dem Kopfsteinpflaster. Wie ein Urteil. Und jetzt diese Postkarte, die klang wie… ein Nachsatz.
In den Wochen danach passierte erst einmal nichts Weltbewegendes. Und gerade das war das Neue: Ich musste nicht mehr warten, dass etwas passiert. Ich pflanzte Winterpostelein, deckte Beete ab, rührte den letzten Apfelmus ein und schrieb Etiketten mit Jahreszahlen, die sich wie Versprechen anfühlten.
Lotte bekam im Tierheim einen Ruf, als hätte sie heimlich eine Karriere geplant. „Sie ist so ruhig“, sagte die Pflegerin am Telefon, „wir haben eine Anfrage. Eine Frau, Anfang sechzig. Der Mann im Pflegeheim, sie ist überfordert. Sie möchte… etwas, das nicht noch mehr schreit.“
Ich sagte zuerst nein. Nicht aus Egoismus, sondern weil Lotte für mich nicht „etwas“ war, sondern die erste Entscheidung, die ich nur für mich getroffen hatte. Doch dann sah ich Lotte an, wie sie im Flur lag, die Pfoten übereinander, den Blick wach und freundlich, und ich merkte: Sie gehört nicht mir. Sie ist bei mir.
„Sagen Sie der Frau, sie kann uns besuchen“, sagte ich. „Wenn Lotte will.“
Am Samstag kam sie. Sie hieß Marianne, hatte einen Mantel an, der schon viele Winter gesehen hatte, und Augen, die so müde waren, dass sie fast transparent wirkten. Sie stand unsicher im Garten, als hätte sie Angst, etwas kaputt zu machen, nur indem sie da ist.
Lotte ging auf sie zu, langsam, ohne diese hektische Hundebewegung, die Menschen manchmal erschreckt. Sie schnupperte an Mariannes Hand, leckte einmal kurz über die Finger, ganz sachlich, und legte sich dann neben ihre Schuhe. Einfach so. Wie ein Anker.
Marianne setzte sich auf die Bank, als hätte man ihr die Beine ausgeschaltet.
„Ich weiß gar nicht, warum ich hier bin“, sagte sie leise. „Ich kann nichts mehr… ich kann nicht mal mehr richtig schlafen.“
Ich stellte Tee hin. Und weil ich gelernt hatte, nicht mehr zu performen, sagte ich nicht: Ach, das wird schon. Ich sagte nur: „Dann sitzen wir eben.“
Das taten wir. Zwei Frauen, ein Hund, ein Garten, der auch im Herbst noch etwas zu erzählen hatte. Und irgendwann, nach einer langen Stille, fragte Marianne: „Haben Sie… Familie?“
„Einen Ex-Mann“, sagte ich, und hörte selbst, wie alt dieses Wort geworden war. „Und einen Rhythmus.“
Sie lächelte kurz, kaum sichtbar. „Ich hatte mal einen Rhythmus“, sagte sie. „Jetzt habe ich nur noch Termine.“
Ich nickte, weil ich das verstand. Termine sind wie kleine Ketten. Man merkt erst, wie schwer sie sind, wenn man versucht, die Arme zu heben.
Als Marianne ging, stand sie an der Gartentür und drehte sich noch einmal um.
„Ihr Garten fühlt sich an wie… wie früher“, sagte sie. „Nicht nostalgisch. Eher… echt.“
„Echt ist oft leise“, antwortete ich.
Sie nickte, und Lotte ging mit ihr bis zur Einfahrt, als würde sie die Strecke einmal abgehen, um zu prüfen, ob Marianne den Weg zurückfindet.
Am Abend klingelte das Telefon. Eine Nummer, die ich seit Monaten nicht mehr eingespeichert hatte, aber die ich trotzdem sofort erkannte, wie man einen Geruch erkennt, der einen in eine andere Zeit wirft.
„Karoline“, sagte Wilhelm.
Seine Stimme klang dünner. Weniger geschniegelt. Kein Applaus im Hintergrund. Kein Restaurantlärm. Nur Luft.
Ich schwieg einen Moment zu lange, nicht aus Bosheit, sondern weil ich mich kurz vergewissern musste, dass ich gerade wirklich atme.
„Du hast die Postkarte bekommen“, sagte er.
„Ja.“
Er räusperte sich. „Ich… ich wollte nicht schreiben, dass es mir leid tut. Das klingt… klein. Und ich will nicht… na ja, du weißt schon.“
„Du willst nicht klein sein“, sagte ich ruhig.
Er lachte kurz, aber es war kein lustiges Lachen. „Genau. Dabei bin ich gerade sehr klein.“
Ich hörte ein Geräusch im Hintergrund, als würde er etwas auf einen Tisch stellen. Vielleicht ein Glas. Vielleicht nur seine Hand, die zitterte.
„Ich war in all diesen Orten“, sagte er. „Toskana, Mallorca, so eine Kreuzfahrt. Ich habe gelacht, ich habe getanzt, ich habe… ich habe sogar gelernt, wie man so ein albernes Cocktail-Ding bestellt, ohne rot zu werden. Und weißt du, was ich die ganze Zeit gesehen habe? Menschen, die sich gegenseitig filmen, damit sie später beweisen können, dass sie Spaß hatten.“
„Und hattest du Spaß?“, fragte ich.
Er schwieg. Dann sagte er: „Ich hatte Angst. Vor der Stille. Vor dem Moment, wenn man zurück ins Kabinenbett geht und niemand fragt: War es gut?“
Ich spürte, wie sich etwas in mir lockerte. Nicht Mitleid. Eher Verständnis. Diese Angst kannte ich. Ich hatte sie nur anders beantwortet.
„Warum rufst du an, Wilhelm?“, fragte ich.
Er atmete hörbar ein. „Weil ich etwas gesehen habe, das mich… erwischt hat. Auf einem Hafenmarkt. Ein alter Mann hat Brot verkauft. Nicht hübsch. Nicht Instagram. Einfach Brot. Und plötzlich dachte ich an dich. An deinen Ofen. An diesen Geruch…“
Seine Stimme brach fast, und ich hörte, wie er schluckte.
„Ich habe mich gefragt“, sagte er leise, „ob ich… ob ich mal kommen darf. Nicht um zurückzukommen. Nicht… nicht so. Nur… um zu sehen, ob das, was du da gebaut hast, wirklich existiert. Oder ob ich mir das jetzt ausdenke, weil ich sonst nichts habe.“
Lotte hob den Kopf, als hätte sie jedes Wort verstanden. Sie kam zu mir und legte ihren schweren Kopf auf meinen Oberschenkel. Wärme. Gewicht. Realität.
„Komm am Mittwoch“, sagte ich. „Nachmittags. Ich backe sowieso.“
„Danke“, sagte Wilhelm. Und diesmal klang es nicht wie ein Deal, sondern wie ein Mensch.
Als der Mittwoch kam, war es wieder ein grauer Tag. Esslingen kann das: grau sein, ohne traurig zu wirken. Eher wie ein Mantel, der dich schützt, während du etwas erledigst, was Mut braucht.
Ich hatte den Ofen früh angeheizt. Holz knisterte, Rauch stieg auf, und in der Küche ging ein Hefeteig auf, als wäre er eine kleine, geduldige Hoffnung.
Wilhelm stand pünktlich an der Tür. Kein Rollkoffer. Nur eine Mappe unter dem Arm, als bräuchte er etwas Festes, um nicht davonzuwehen. Seine Haut war immer noch gebräunt, aber das Solariumlicht konnte nicht verbergen, dass seine Augen müde waren.
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