Neunjähriger läuft nachts zur alten Feuerwache und was er im Umschlag bringt, schockiert alle Männer dort

Der Junge schob uns durch den Zaun unseres alten Feuerwehrhofs einen Umschlag mit zwanzig zerknitterten Eurostücken entgegen – und bat uns, sein toter Vater zu sein.

Morgen war Berufetag in der Schule. Jedes Kind sollte seinen Vater mitbringen.

Aber Jonas, neun Jahre alt, hatte keinen Vater mehr. Sein Vater war vor drei Jahren bei einem Einsatz der Feuerwehr ums Leben gekommen. Seine Lehrerin hatte gesagt: keine Ausnahmen. Entweder ein Elternteil kommt mit in die Schule – oder eine schlechte Note.

Also lief dieser Junge mitten in der Nacht fast sieben Kilometer quer durch die Stadt zu unserem Feuerwehrverein. Zwanzig Euro, die er in einem halben Jahr mit Pfandflaschen gesammelt hatte.

Er stand am Tor, in seiner zu großen Schuluniformjacke, zitternd vor Kälte und Angst, und hielt uns sein ganzes Erspartes hin.

„Mein Papa war Feuerwehrmann“, flüsterte er mit tränenerstickter Stimme.

„Er ist im Einsatz gestorben. Morgen lachen alle über mich, weil ich der Einzige ohne Vater bin. Bitte. Nur einer von euch. Nur eine Stunde so tun, als wärt ihr er.“

Was dann passierte, hatte niemand erwartet – am allerwenigsten die Schulleiterin, die die Regel gemacht hatte.

„Bitte“, sagte er noch einmal. „Nur eine Stunde. Der Berufetag fängt um neun an.“

Ich heiße Karl „Kalle“ Brandt. Zweiundsechzig Jahre alt. Verwitwet. Ehemaliger Berufsfeuerwehrmann, jetzt Vorsitzender vom Verein „Alte Wache 7“. Dreißig Jahre im Dienst gewesen. Wohnungsbrände, Verkehrsunfälle, Flutnächte – ich dachte, ich hätte alles gesehen.

So etwas noch nie.

„Junge, wo ist deine Mutter?“ fragte Dieter durch den Zaun. Früher Gruppenführer bei der Berufsfeuerwehr, jetzt Rentner mit kaputtem Knie.

„Arbeiten“, sagte Jonas. „Sie putzt nachts Büros und morgens in einem Supermarkt. Sie weiß nicht, dass ich hier bin.“

„Woher weißt du überhaupt, dass es uns gibt?“ fragte ich.

Jonas zog ein zerknittertes Blatt aus seiner Jackentasche. Ein Ausdruck von einer digitalen Stadtkarte, auf dem unser alter Feuerwehrhof rot eingekreist war.

„Ich hab im Internet gesucht: ‚Feuerwehrverein in der Nähe der Grundschule am Stadtpark‘. Ihr seid am nächsten. Nur sechs Komma acht Kilometer.“

Sechs Komma acht Kilometer. Ein neunjähriger Junge läuft mitten in der Nacht fast sieben Kilometer durch ein Industriegebiet, an Kneipen und Unterführungen vorbei.

„Hier hättest du sonst wem begegnen können“, knurrte Mehmet. Früher Atemschutzgeräteträger, heute Kfz-Meister. „Das ist nachts keine gute Gegend.“

„Niemand ist so schlimm,“ sagte Jonas leise, „wie morgen allein im Klassenraum zu sitzen, wenn alle mit ihrem Papa kommen. Frau Lenz hat gesagt: Alle müssen einen Vater oder eine Mutter mitbringen. Keine Ausnahmen. Sogar Lenas Vater lässt sich extra von der Baustelle freistellen. Und Pauls Vater kommt aus der Justizvollzugsanstalt für den Tag raus.“

„Hast du keinen Opa? Onkel?“ fragte ich.

„Opa sitzt im Pflegeheim im Rollstuhl, seit dem Schlaganfall. Er kann nicht mal mehr alleine essen. Onkel Ralf hat gesagt, er nimmt keinen Urlaub für so einen Quatsch. Das bringt doch nichts für die Karriere, hat er gesagt.“

Die Hände des Jungen zitterten, als er den Umschlag mit dem Geld noch einmal durch den Zaun schob.

„Zwanzig Euro“, stammelte er. „Ich weiß, es ist nicht viel. Aber ich hab ein halbes Jahr Flaschen gesammelt. Bitte. Mein Papa war Brandoberinspektor Daniel König. Er ist vor drei Jahren bei einem Lagerhallenbrand gestorben. Am 15. November.“

König.

Ich schaute ihn mir genauer an. Der gleiche harte Blick wie sein Vater auf dem Foto, das damals in der Zeitung war. Nur dass dieser hier vor Angst flackerte.

„Dein Vater ist bei uns im Stadtteil gefahren, oder?“ fragte Dieter vorsichtig.

Jonas nickte. „Feuerwache Süd. Er wollte mir alles über Feuerwehrautos zeigen, wenn ich größer bin. Er hat gesagt, wenn ich sechzehn bin, darf ich mit ihm zusammen einen alten Mannschaftswagen restaurieren.“

Wir standen da. Zwölf ehemalige Feuerwehrleute, die sich in unserem alten Depot treffen, um zu schrauben, zu reden, Kaffee zu trinken. Männer mit Narben an Händen und Herzen. Männer, die Nächte in Rauch und Sirenengeheul verbracht haben.

Und jetzt standen wir schweigend vor einem neunjährigen Jungen mit einem Umschlag und viel zu großen Augen.

„Behalt dein Geld, Jonas“, sagte ich schließlich.

Sein Gesicht fiel in sich zusammen. „Ich verstehe schon. Es ist zu wenig. Entschuldigung, dass ich gestört habe.“

Er drehte sich um und wollte gehen.

„Jonas.“

Er blieb stehen.

„Ich hab gesagt, du sollst dein Geld behalten“, fuhr ich fort. „Ich habe nicht gesagt, dass wir dir nicht helfen.“

Jonas drehte sich wieder um. „Ihr… ihr helft mir?“

„Wann fängt der Berufetag an?“ fragte ich.

„Um neun. In der Turnhalle“, sagte er schnell. „Grundschule am Stadtpark.“

„Die in der Lindenstraße?“

Er nickte.

„Wir sind da.“

„Wir?“ Jonas riss die Augen auf. „Einer von euch reicht. Ich will keinen Ärger machen.“

Mehmet lachte leise. „Junge, wir sind alte Feuerwehrleute. Ärger haben wir im Blut.“

„Aber die Schule hat Regeln“, stammelte Jonas. „Nur ein Elternteil pro Kind.“

Dieter grinste. „Dann wird die Schule morgen lernen, dass man mit den Kindern eines Feuerwehrmanns nicht alleine machen kann, was man will.“

„Aber ich bin doch gar kein…“

„Ab morgen schon“, sagte ich. „Halb neun stehst du vor dem Haupteingang. Wir holen dich ab.“

„Woran erkenne ich, wer von euch mein Papa sein soll?“

Ich sah diesen Jungen an. Diesen tapferen, verzweifelten, viel zu ernsten Jungen.

„Wir alle“, sagte ich. „Jeder von uns.“

Jonas’ Augen füllten sich mit Tränen. „Aber Frau Lenz hat gesagt…“

„Hör zu, Jonas“, sagte ich leise. „Es gibt einen Spruch bei uns Feuerwehrleuten: Keiner bleibt im Feuer zurück. Nie. Wenn einer von uns fällt, passen die anderen auf die Familie auf. Dein Vater ist nicht mehr da. Aber seine Kameraden sind überall. Und morgen lernst du ein paar von ihnen kennen.“

Wir brachten Jonas mit Mehmet im Kombi nach Hause. Kein Blaulicht mehr, nur noch der leise Motor in der dunklen Straße. Seine Wohnung war klein. Die Fassade bröckelte. Aber drinnen war alles ordentlich. Auf dem Regal ein Bild: Jonas’ Vater in Uniform, mit Helm unterm Arm. Daneben eine Kerze.

„Bitte sagen Sie Mama nichts“, bat Jonas. „Sie kriegt sonst Angst, dass ich wieder nachts verschwinde.“

„Unser Geheimnis“, versprach ich.

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Immer wieder sah ich ihn vor mir: wie er allein durch die dunklen Straßen läuft, den Umschlag mit zwanzig Euro fest an sich gedrückt, weil er so verzweifelt ist, dass er sich einen Vater mieten will.

Ich nahm das Telefon.

Bis zum Morgen hatte es sich herumgesprochen.

Um halb neun rollten wir nicht zu zwölft an die Grundschule am Stadtpark.

Wir waren zu neununddreißigst.

Ehemalige Berufsfeuerwehrleute, Freiwillige, ein paar aktive Kollegen, die gerade frei hatten, dazu ehemalige Rettungssanitäter und ein Techniker aus dem Katastrophenschutz. Manche mit grauen Haaren, manche mit frischen Tätowierungen, alle mit denselben alten Einsatzjacken und einem Emblem auf der Brust.

Jonas stand am Eingang. Der Ranzen war fast größer als er selbst. Sein Mund stand offen.

„Ich… ich kann euch nicht alle bezahlen“, stotterte er.

„Sei still, Junge“, sagte Mehmet sanft. „Dein Papa hat schon bezahlt. Vor drei Jahren. Mit seinem letzten Einsatz.“

Die Schulleiterin, Frau Schubert, kam mit schnellen Schritten auf uns zu.

„Was ist denn hier los? Sie können hier nicht einfach den Parkplatz blockieren! Das ist eine Schule!“

Ich stieg aus. Die alten Stiefel knirschten auf dem Kies. „Guten Morgen, Frau Schubert. Wir sind wegen des Berufetags hier.“

„Der Berufetag ist nur für Eltern“, sagte sie streng. „Ein Elternteil pro Kind.“

„Wir sind Jonas Königs Familie“, sagte ich ruhig.

Sie sah Jonas an. „Ist das… deine Familie?“

Bevor Jonas etwas sagen konnte, trat ich einen Schritt nach vorne. „Sein Vater war Brandoberinspektor Daniel König. Vor drei Jahren bei einem Einsatz gestorben. Diese Männer hier sind seine Kameraden.“

„So war das aber nicht gemeint“, sagte Frau Schubert. „Die Regel lautet nun einmal: ein Elternteil pro Kind.“

„Jonas hat kein Elternteil, das kommen kann“, sagte Dieter. „Er hat seine Mutter, die Geld verdienen muss, damit sie die Miete zahlen kann. Und er hat seinen Vater, der im Einsatz gestorben ist. Und er hat uns.“

„Wenn wir jetzt anfangen, Ausnahmen zu machen…“ begann sie.

„Dann fangen Sie mal an“, sagte ich. „Sonst ist die einzige Ausnahme der Junge, dessen Vater im Dienst gestorben ist.“

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