Der Stall war kalt, aber sie wusste, dass sie ihn dort finden würde.
Lena Stein öffnete die schwere Tür mit beiden Händen. Es roch nach altem Stroh, Eisen und der süßen, warmen Feuchte, die nur Tiere und Zeit hinterlassen.
Ihr Großvater saß auf einem Holzschemel im Halbdunkel, neben dem alten Melkeimer. Die Gummistiefel waren mit Matsch verkrustet, seine Hose nass bis zu den Knien. Er schaute nicht auf.
„Du bist lange weg gewesen, Opa.“
Keine Antwort. Nur ein leichtes Nicken.
Lena trat näher, ließ sich langsam neben ihn nieder. Schweigend. Nicht aus Höflichkeit – sondern aus Respekt. Weil Schweigen manchmal ehrlicher ist als jede Entschuldigung.
Sie war 17, mit Zopf und Turnschuhen, die schon bessere Tage gesehen hatten. Zwischen Hip-Hop-Playlists und Chatnachrichten war sie doch irgendwie anders als ihre Freunde. Vielleicht lag das an ihm.
Heinrich schnaufte durch die Nase.
„Hab mich nur kurz umgesehen. Mehr nicht.“
„Auf dem Acker?“
Er sah sie kurz an. Der Blick war müde, aber nicht leer.
„Ich wollte sehen, ob sich einer noch bückt, wenn ‘ne Kartoffel auf dem Boden liegt. Aber da ist ja keiner mehr.“
Lena schwieg wieder. Dann kramte sie in ihrer Tasche und zog ein kleines Notizbuch hervor.
„Ich hab nächste Woche ein Schulprojekt. Thema: ‘Vergessene Berufe’. Wir sollen jemanden interviewen. Ich hab meinen Lehrer gefragt, ob ich über dich schreiben darf.“
Heinrich hob die Augenbrauen. „Was willst du denn da schreiben? Dass ich stinke wie ein Stall?“
„Nein“, sagte sie leise. „Dass du der Grund bist, warum ich weiß, wie eine Tomate schmeckt. Und warum ich den Unterschied zwischen Arbeit und Geld kenne.“
Ein Moment lang war es still. Dann nahm Heinrich den alten Melkeimer, drehte ihn um und klopfte auf den Rand.
„Na gut. Dann frag mal.“
Die nächsten Stunden verbrachten sie im alten Wohnhaus. Lena blätterte durch vergilbte Fotoalben: Heinrich als junger Mann, auf dem Traktor, mit Kuh vor der Scheune, bei der Heuernte mit Franz.
ie schrieb alles auf. Wie es früher war. Wie man Tiere kannte – jedes mit Namen. Wie das Wetter den Tag bestimmte, nicht der Terminkalender. Wie Nachbarn halfen, ohne zu fragen.
„Und wie war das mit Oma?“, fragte sie irgendwann.
Heinrich schmunzelte. „Deine Oma hat mich zuerst für einen Sturkopf gehalten. Hat gesagt, ich riech nach Stall und brauch einen Kamm. Ich hab geantwortet: ‘Ich kann dir keine Rosen kaufen, aber ich kann dir Kartoffeln liefern, dein Leben lang.’“
„Und?“
„Sie hat Ja gesagt. Zum Leben. Nicht zum Geruch.“
Am Abend setzten sie sich in die Küche. Auf dem Tisch stand der Rest Rotkohl vom Markt, dampfend, mit Butter. Lena griff zu.
„Was ist eigentlich das Schönste, was du je geerntet hast?“
Heinrich schaute sie an. Dann sagte er:
„Zeit. Ich hab Zeit geerntet. Stunden mit deinem Vater im Stall. Sekunden, in denen eine Kuh kalbt. Minuten, in denen der erste Schnee fällt. Das ist Ernte. Nicht das Zeug in der Kiste.“
Ein paar Tage später stand Lena in ihrer Schule vor der Klasse. Der Projektvortrag.
Sie hielt das Notizbuch in der Hand, das inzwischen voller Zeilen war.
Keine Folien. Keine Grafiken. Nur Worte.
Sie begann mit dem Satz:
„Mein Opa war nie berühmt, aber er hat mein Leben ernährt.“
Stille im Raum.
Sie erzählte von den Händen, die nie schön waren, aber stark. Von der Erde, die er nie verlassen wollte. Von der Liebe, die man nicht riecht, aber schmeckt – wenn man seinen Apfel isst.
Sie schloss mit den Worten:
„Er sagt, die Welt hat ihn vergessen. Aber der Boden kennt seinen Namen. Und ich auch.“
Einige Mitschüler schauten verlegen auf ihre Handys. Andere hörten still zu. Der Lehrer, ein Mann mit schütterem Haar, blinzelte kurz, dann klatschte als Erster.