Teil 4: Die Straße mit dem offenen Tor
Der Satz im Umschlag verfolgte Paul den ganzen Tag.
„Das Tier kennt den Weg – aber du musst bereit sein, ihm zu folgen.”
Was bedeutete das?
Ein Rätsel? Ein Spiel? Eine Warnung?
Max schien nicht verändert.
Er fraß, döste, leckte Pauls Hand.
Aber hin und wieder…
Da stand er auf, trat an die Tür und schaute hinaus.
Wie jemand, der auf ein Zeichen wartet.
Frau Rausch faltete den Zettel sorgfältig und steckte ihn in den Schuhkarton.
„Jemand beobachtet uns”, sagte sie leise.
„Nicht feindlich. Aber mit Absicht.”
Paul bekam Gänsehaut.
„Sie denken, das hat etwas mit dem alten Hund von damals zu tun?”
„Vielleicht nicht direkt. Aber manche Geschichten enden nicht einfach. Sie schleichen sich weiter – durch Zeit und Haut und Blut.”
—
Am Sonntagmorgen erwachte Paul früh.
Die Sonne stand tief, tauchte das Zimmer in honigfarbenes Licht.
Max saß am Fenster.
Die Ohren aufgestellt, der Kopf leicht geneigt.
Sein Blick war starr – nicht auf die Straße, sondern auf etwas weiter links.
Paul folgte seinem Blick.
Da war nichts…
Oder?
Er trat ans Fenster.
Die Straße lag still.
Nur ein kleines Tor am Ende der Gasse stand offen – das alte Eisengitter, das sonst immer abgeschlossen war.
Dahinter: ein verwilderter Garten, ein verlassenes Gewächshaus.
„Was ist da, Max?”, flüsterte Paul.
Der Hund bellte leise – fast zustimmend.
Dann sprang er vom Fensterbrett und tappte zur Tür.
„Du willst dahin, stimmt’s?”
Max wartete.
Rührte sich nicht, bis Paul die Leine in die Hand nahm.
Und dann – wie von einer Kraft gezogen – marschierte er los.
—
Der Weg zum offenen Tor war kurz, aber seltsam still.
Keine Amsel, kein Windstoß.
Nur das leise Klacken von Max’ Krallen auf dem Pflaster.
Paul blieb am Gitter stehen.
Er kannte diesen Garten.
Zumindest vom Sehen.
Er gehörte früher einem alten Ehepaar. Beide verstorben. Seit Jahren stand das Grundstück leer.
Doch jetzt sah es anders aus.
Nicht lebendig – aber… geordnet.
Als hätte jemand vor kurzem das hohe Gras niedergetreten.
Als wäre da eine Spur.
Max zog leicht an der Leine.
„Na gut”, murmelte Paul. „Aber nur kurz.”
Sie traten ein.
—
Der Garten war größer, als Paul gedacht hatte.
Alte Rosenbüsche, knorrige Bäume, dazwischen ein verrostetes Windspiel, das nicht mehr drehte.
Max schnüffelte konzentriert.
Er lief einen schmalen Pfad entlang, der zum Gewächshaus führte.
Die Tür war halb offen.
Eine Scheibe eingeschlagen.
Dahinter: nur Schatten.
Paul zögerte.
„Ich weiß nicht, ob wir hier sein sollten…”
Max bellte.
Dann lief er hinein.
„Max!” Paul folgte – das Herz pochte.
Innen war es dunkel.
Staub lag auf allem. Alte Blumentöpfe, vergilbte Gummistiefel, zerfallene Zeitungen.
Und in der hinteren Ecke:
Eine Decke.
Ein Napf.
Ein Stück altes Brot.
„Jemand… lebt hier?”
Max knurrte leise.
Nicht bedrohlich. Aber angespannt.
Paul wollte umdrehen – da hörte er Schritte.
—
„Was machst du hier?”
Die Stimme war kratzig, heiser, alt.
Paul fuhr herum.
Ein Mann stand in der Tür des Gewächshauses.
Groß. Grauhaarig.
Seine Kleidung war schmutzig, aber ordentlich.
In der Hand: ein Stock. Kein Spazierstock – mehr wie ein selbstgeschnitzter Stab.
„Ich… mein Hund. Er wollte hierher.”
Der Mann sah auf Max hinab.
Dann, nach einer langen Pause, sagte er:
„Das dachte ich mir fast.”
—
Sie saßen wenig später im Garten.
Der Mann, Paul, Max zwischen ihnen.
„Ich bin Herr Grünwald”, sagte der Fremde.
„Früher Lehrer. Dann Hausmeister. Dann… nichts mehr.”
Paul musterte ihn.
Die Augen des Mannes waren wässrig, aber klug.
„Und Sie wohnen hier?”
„Nicht offiziell.”
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Ich kümmere mich nur um das, was vergessen wurde.”
„Und… kennen Sie Max?”
Der Mann schwieg.
Dann holte er ein altes Notizbuch aus der Tasche.
Blätterten. Zeigte ein Foto.
„Erkennst du ihn?”
Paul sah hin.
Ein Hund.
Genau wie Max.
Nur älter. Grauer.
Aber die Augen… dieselben.
„Das… ist nicht möglich.”
„Ich nannte ihn Balto. 1991. Er hat mir das Leben gerettet, Junge. Er hat gewusst, wo ich liege. Nach dem Unfall. Ich lag im Wald, vier Tage, gebrochene Hüfte. Kein Mensch hätte mich gefunden.”
Paul schluckte.
„Und… du glaubst, Max ist…?”
„Nicht derselbe. Aber etwas von ihm ist da. Hunde… vergessen nicht so leicht, wie wir glauben.”
—
Sie redeten lange.
Über alte Zeiten.
Über Verlust.
Über Einsamkeit.
Über Hoffnung.
Als Paul sich verabschiedete, sagte der Mann:
„Bring ihn ruhig wieder her. Ich glaube, er sucht mehr als nur ein Zuhause.”
—
Am Abend erzählte Paul alles Frau Rausch.
Von Herrn Grünwald. Vom Foto. Vom Gewächshaus.
Sie nickte.
„Ich kenne ihn. Er war ein stiller Mann. Und er hat nach dem Unfall nie mehr mit jemandem geredet.”
„Bis heute.”
„Vielleicht, weil Max gekommen ist.”
Sie schaute Paul lange an.
Dann sagte sie:
„Ich glaube, dieser Hund bringt uns zurück zu dem, was wir verloren haben. Stück für Stück.”
Paul dachte an den offenen Garten.
An den alten Mann mit dem Foto.
Und an Max, der jetzt friedlich schlief.
Vielleicht… vielleicht hatte er recht.
—
Doch in der nächsten Nacht…
Erneut ein Geräusch.
Diesmal kein Kratzen. Kein Brief.
Sondern ein Bellen – kurz, scharf, alarmierend.
Paul sprang auf.
Max stand am Fenster. Die Nackenhaare aufgestellt.
Dann rannte er zur Tür. Jaulte.
„Was ist los?!”
Frau Rausch erschien im Flur – barfuß, blass.
Paul öffnete die Tür.
Und draußen, auf der Treppe:
Ein Paket.
Kein Absender. Nur ein Wort:
„Für Paul.”
—
Seine Hände zitterten, als er den Deckel hob – denn was darin lag, konnte nur jemand kennen, der längst verschwunden war.