Teil 7: Die Tür im Traum
Der Traum war so klar, dass Paul beim Erwachen nicht sicher war, ob es überhaupt ein Traum gewesen war.
Die Tür stand mitten im Nichts.
Kein Haus, kein Boden, kein Himmel – nur diese alte, hölzerne Tür mit abgeschabter Farbe und rostigem Griff.
Sie öffnete sich lautlos.
Und Max trat hindurch.
Ohne umzusehen.
Ohne Zögern.
Paul hatte versucht, ihm zu folgen, aber seine Beine waren wie aus Stein.
Er konnte rufen, konnte schreien – aber kein Laut verließ seine Lippen.
Jetzt lag er wach in der Dunkelheit.
Das Herz raste.
Die Bettdecke klebte an seinem Rücken.
Neben ihm: Stille.
Er streckte die Hand aus.
Max’ Platz war leer.
Er sprang auf.
Tappte barfuß durch den Flur, an Frau Rauschs Zimmer vorbei.
Die Tür war angelehnt.
Er sah sie ruhig atmen, das Gesicht friedlich, die Brust hob und senkte sich gleichmäßig.
Dann sah er zum Fenster.
Und da war er.
Max.
Sitzend im Mondlicht.
Den Blick zum Himmel gerichtet.
—
Am nächsten Morgen erzählte Paul ihr von der Tür.
Frau Rausch hörte aufmerksam zu.
Nickte dann.
„Ich hatte denselben Traum, bevor mein Mann ging”, sagte sie leise.
„Die Tür?”
„Ja. Er stand davor. Und lächelte. Er wusste, wohin er ging.”
„Und du?”
„Ich wusste, dass ich nicht mitgehen sollte. Dass es noch nicht meine Zeit war.”
Paul schwieg.
„Max wird nicht für immer bleiben, Paul.”
„Ich weiß.”
„Und wenn er geht, darfst du ihn nicht halten. Du musst ihm danken.”
—
In der Schule war Paul still.
Er hörte mehr, redete weniger.
Selbst Herr Löffler, der sonst unnachgiebige Mathelehrer, fragte:
„Alles in Ordnung, Paul?”
„Ich glaube… ja”, sagte er.
„Ich lerne gerade, loszulassen.”
—
Die Tage wurden kürzer.
Der erste Frost zog über die Dächer.
Max wurde ruhiger, sein Blick ernster.
Er schlief mehr, fraß langsamer.
Und dann, eines Nachmittags, als Paul von der Schule kam, saß Max nicht wie sonst am Fenster.
Er lag zusammengerollt auf dem Sofa, die Nase tief im Fell, und hob den Kopf nicht, als Paul rief.
„Max?”
Er trat näher.
Der Hund hob langsam den Blick.
Ein stilles Blinzeln. Kein Schmerz. Kein Jaulen.
Nur Müdigkeit.
Frau Rausch stand in der Küchentür.
Sie sagte nichts.
Aber Paul verstand.
„Es ist bald so weit, oder?”
„Ja”, flüsterte sie.
„Er wartet nur noch auf dich.”
—
An diesem Abend tat Paul etwas, das er lange aufgeschoben hatte.
Er ging in den Keller seines Elternhauses.
Hinter alte Kisten, Kartons, Schränke.
Dort, in einer Dose, fand er Bonny’s altes Halsband.
Und ein Fotoalbum.
Darin: Bilder, die er vergessen hatte.
Bonny als Welpe. Bonny mit ihm im Laub. Bonny am Zaun wartend, wenn er von der Schule kam.
Er nahm alles mit.
Ging zu Frau Rausch.
Setzte sich neben Max.
Der Hund hob leicht den Kopf.
Und als Paul ihm das Halsband zeigte, bellte er leise – fast wie ein Hauch.
Paul legte es vorsichtig vor ihn.
„Ich wollte, du hättest sie gekannt”, sagte er.
„Aber vielleicht… hast du das ja.”
—
In den Tagen darauf wurde Max schwächer.
Er konnte keine langen Spaziergänge mehr machen.
Stattdessen lag er oft im Garten, den Kopf auf den Pfoten, das Gesicht zur Linde gerichtet.
Einmal kam Herr Grünwald zu Besuch.
Er kniete sich neben Max, strich ihm über das Fell.
„Du bist ein guter Hund”, sagte er.
„Und das hier ist ein guter Junge. Du hast ihn verändert.”
Paul hörte es.
Und ein Teil von ihm wusste: Das war eine Abschiedsszene.
Nicht dramatisch.
Sondern würdevoll.
Wie wenn ein Kapitel endet, ohne zu zerreißen.
—
Einen Tag vor dem ersten Schnee schneite es Briefe.
Nicht wörtlich – aber so fühlte es sich an.
Im Briefkasten lagen fünf handgeschriebene Karten.
Von Menschen, die Paul kaum kannte.
Die Nachbarin von nebenan.
Ein älterer Herr aus der Straße.
Ein Mädchen aus der Grundschule.
Und zwei Lehrer.
Alle schrieben über Max.
Wie er vor ihrer Tür saß.
Wie er sie einfach ansah – und sie sich danach besser fühlten.
Wie sie das Gefühl hatten, dass jemand sie verstanden hatte.
„Ich wusste nicht, dass er so viele Menschen berührt hat”, flüsterte Paul.
Frau Rausch schüttelte den Kopf.
„Doch. Wusstest du. Du wolltest es nur nicht glauben.”
—
In der Nacht fiel der erste Schnee.
Leise.
Zärtlich.
Als hätte der Himmel verstanden, dass man für Abschiede keine Geräusche braucht.
Paul wachte auf, als Max winselte.
Nicht vor Schmerz.
Sondern wie ein leiser Ruf.
Er setzte sich zu ihm.
Streichelte ihn.
„Ich bin da.”
Max öffnete die Augen.
Ein letztes Mal.
Und Paul erkannte darin etwas, das keine Worte brauchte:
Dankbarkeit.
Vertrauen.
Frieden.
Dann legte Max den Kopf in Pauls Schoß.
Atmete aus.
Und blieb still.
—
Es regnete nicht.
Es donnerte nicht.
Die Welt blieb einfach… still.
Frau Rausch kam leise herein.
Sie sagte kein Wort.
Sie legte nur die Decke über Max’ Körper.
Paul weinte.
Nicht laut.
Nicht wild.
Sondern so, wie man weint, wenn man etwas verliert, das man nie ganz begreifen konnte.
—
Sie begruben Max im Garten.
Unter der Linde.
Paul legte das Halsband daneben.
Und das Bild von Bonny.
Ein Stein.
Kein Name.
Nur eine eingeritzte Linie: „Danke.“
—
Drei Tage später, als Paul am Grab saß, hörte er es wieder – ein leises Bellen aus der Ferne. Und es war nicht Max. Aber irgendetwas darin klang… vertraut.