Paulas letzter Sommer | Der letzte Sommer einer Hündin – und die stille Liebe, die im Garten bleibt

Teil 4: Der Morgen danach

Der Morgen war kühl.
Nicht kalt – aber anders.
Die Hitze der letzten Tage hatte sich über Nacht zurückgezogen, als hätte sie gewusst, dass heute keine Kraft mehr gebraucht wurde.

Im Garten lag Tau auf den Grashalmen, silbern wie feiner Staub.
Und über der Wiese hing ein dünner Nebelschleier, der alles sanfter machte.
Als würde der Tag flüstern: „Geh langsam. Nichts eilt.“

Marianne war vor Sonnenaufgang wach geworden.
Nicht durch einen Laut.
Sondern durch das Gefühl, dass etwas zu Ende gegangen war.


Sie ging leise die Treppe hinunter.
Barfuß, im Morgenhemd, die Haare offen.
Im Flur nahm sie die Decke vom Haken – die weiche, graue mit den Fransen, die sonst nur für Winterabende gedacht war.
Dann öffnete sie die Terrassentür.

Der Garten roch nach Erde.
Und nach Abschied.


Paula lag noch in ihrer Hütte.
Genau so, wie Marianne sie gestern hingelegt hatte:
Der Kopf auf der gefalteten alten Gartenjacke, die Lefzen leicht geöffnet, die Augen geschlossen.

Aber irgendetwas war anders.
Nicht das Atmen – es war noch da, kaum hörbar, aber da.
Nicht die Haltung – sie war ruhig, wie immer in den letzten Tagen.

Es war die Stille um sie herum.
Sie war tiefer. Fester.
Endgültiger.


Marianne setzte sich neben sie.
Sie legte die Decke über ihre eigenen Knie, streichelte Paula sacht über den Hals.
Es war kein Warten mehr.
Kein Hoffen.
Nur Dasein.

Theo kam wenig später.
Er ging nicht wie sonst fröhlich wedelnd über den Rasen.
Er trottete langsam, die Rute gesenkt, den Kopf tief.
Er legte sich neben Paula, ohne zu winseln, ohne zu drängeln.

Dann kam Leni.
Sie sprang auf das Terrassenbrett, beobachtete aus der Entfernung.
Ihr Blick war ruhig, aber wach.
Sie kam nicht näher.
Es war, als hätte sie ihren Abschied schon gestern genommen.

Und Karlchen?
Er bewegte sich nicht.
Er war noch immer am Gartentor, mit dem Panzer zur Hütte gewandt.
Ein Wächter aus Stein.


Marianne saß lange so.
Niemand kam. Kein Telefon klingelte.
Es war, als hätte sich die Welt selbst in einen Kokon gelegt – aus Stille, Licht und letzter Wärme.

Gegen acht stand sie auf.
Sie ging ins Haus, kochte sich einen Tee.
Dann setzte sie sich an den alten Sekretär im Wohnzimmer und öffnete die kleine Schublade mit den Briefpapieren.

Sie nahm ein Blatt heraus.
Schlichtes, cremefarbenes Büttenpapier.

Und begann zu schreiben.


„Liebe Paula,“
stand da.
Dann hielt sie inne.

Es war seltsam, einem Tier zu schreiben.
Aber vielleicht war es kein Brief an ein Tier.
Sondern ein Brief an eine Zeit.
An ein Leben, das zu Ende ging.


Sie schrieb langsam.
Jeder Satz wog schwer.

„Du bist gekommen, als ich dachte, nichts mehr fühlen zu können.
Du hast mich gefunden, nicht ich dich.
Du hast nichts gefragt – nur gewartet.
Du hast nie mehr gefordert als Nähe.
Und nie weniger gegeben als alles.

Ich habe viel falsch gemacht.
Zu viel gearbeitet. Zu oft gezweifelt. Zu selten zugehört.
Aber du warst da. Immer.

Dies war unser letzter Sommer.
Und ich weiß, du hast ihn gespürt.

Ich werde dich loslassen.
Aber vergessen – das werde ich nicht.“

Sie faltete den Brief.
Legte ihn unter den Stoffhasen, der jetzt auf dem Fensterbrett lag.
Und ließ ihre Hand noch einen Moment auf dem weichen Stoff verweilen.


Am späten Vormittag rief sie an.
Bei Dr. Anne Schenk, ihrer Tierärztin seit über zehn Jahren.
Eine Frau mit klarer Stimme und warmen Augen.

„Ich glaube, es ist so weit“, sagte Marianne leise.
Dr. Schenk schwieg einen Moment. Dann sagte sie: „Ich komme um halb vier. Zuhause, ja? Im Garten?“

„Ja. Im Garten.“


Die Stunden bis dahin vergingen langsam.
Aber nicht leer.
Marianne räumte die Terrasse auf.
Stellte eine Decke auf die Bank.
Legte Paulas Napf daneben – leer, aber sauber.
Sie wusste nicht, warum.
Nur, dass es richtig war.

Dann ging sie in den Schuppen.
Suchte die alte Holzkiste heraus, in der früher die Decken lagen.
Sie war stabil, schlicht.
Sie roch nach Lavendel.
Marianne legte ein Kissen hinein.
Und den Stoffhasen.


Als der Nachmittag kam, wurde der Himmel wieder hell.
Keine Sonne – nur Licht, milchig und weich.
So wie man es sich für ein stilles Ende wünscht.

Um halb vier bog ein kleiner grauer Wagen in die Einfahrt.

Dr. Schenk stieg aus.
Ohne Kittel. Ohne Tasche.
Nur mit einer kleinen, schwarzen Mappe.

Sie begrüßte Marianne mit einem Nicken. Keine Umarmung. Keine Worte.
Sie wusste: Heute braucht es nichts weiter als Anwesenheit.


Sie ging zu Paula.
Kniete sich zu ihr.
Streichelte sie.
Dann sah sie Marianne an.

„Sie ist bereit“, sagte sie.

Marianne nickte.
Sie war es nicht.
Aber sie würde es sein.
Für Paula.


Die Spritze war klein.
Ein winziger Pieks.
Paula zuckte nicht.

Dr. Schenk hielt ihre Hand auf dem Brustkorb.
Spürte.
Zählte.

„Sie geht jetzt“, flüsterte sie.

Marianne hielt Paulas Kopf in ihrem Schoß.
Sie schloss ihr die Augen.
Und saß lange so da.

Still.


Später half Dr. Schenk, Paula in die Holzkiste zu legen.
Mit dem Kissen.
Mit dem Hasen.

„Ich lasse Sie jetzt allein“, sagte sie.
„Wenn Sie Hilfe brauchen – sagen Sie es.“

Marianne begleitete sie zum Auto.
Dann stand sie im Garten.
Allein.

Aber nicht leer.


Am Abend saßen Theo, Leni und Karlchen wieder auf der Terrasse.
Niemand fraß. Niemand spielte.
Doch niemand war weggerannt.

Sie blieben.
Weil etwas geblieben war.


Die Bank unter dem Apfelbaum stand leer.
Aber auf der Lehne lag der Stoffhase.
Wie früher.

Und manchmal, wenn der Wind durch die Bäume ging,
roch es noch nach Paula.

Nicht nach Krankheit. Nicht nach Abschied.
Sondern nach Sommer.

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